Die Änderung des Erbrechts sorgt in Tunesien für heftige Proteste, im Sommer demonstrierten etwa konservative Gegner des neuen Gesetzes in der Hauptstadt Tunis.

Foto: APA/AFP/FETHI BELAID

Zugleich gingen am Frauentag Mitte August aber auch zahlreiche Tunesierinnen für die Änderung auf die Straße.

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Tunesien gilt nach den Aufständen des Arabischen Frühlings und dem Sturz von Machthaber Zine el-Abidine Ben Ali oft als Musterbeispiel für den demokratischen Übergangsprozess. Doch die Erfolge sind relativ, sagt die Frauenrechtlerin und Journalistin Safa Belghith, etwa was Vergangenheitsbewältigung und den Kampf für Frauenrechte betrifft. Sie kritisiert die Regierung dafür, sich aus politischem Kalkül bei feministischen Initiativen auf religiös-kontroverse Themen zu beschränken. Die Änderung des Erbrechts sei zufolge ein solches Thema, das etwa vom umstrittenen neuen Versöhnungsgesetz ablenken soll.

STANDARD: Tunesien driftete nach den Aufständen im Zuge des Arabischen Frühlings nicht ins Chaos wie viele andere Länder in der Region. Inwieweit wurden die Ziele der Revolution erreicht?

Belghith: Soziale Gerechtigkeit ist immer noch nicht erreicht, die ökonomische Situation ist dramatisch, Investitionen in ländliche Gebiete fehlen, in Infrastrukturprojekte. Auch bei der Aufarbeitung und Vergangenheitsbewältigung geht es nur schleppend voran, für die Opfer von Folter vor 2011 gibt es keine Entschädigung, nicht einmal Anerkennung des Staates. Es ist schwierig, darüber zu sprechen, weil Tunesien immer als Erfolgsmodell gilt. Aber der Erfolg ist sehr relativ. Natürlich ist Tunesien ein Erfolg im Vergleich zu Ländern, in denen etwa Krieg herrscht. Aber im Alltag quälen sich die Menschen.

STANDARD: Vergangenes Jahr gingen die Menschen auch noch zahlreicher auf die Straße, um gegen die wirtschaftliche Misere zu protestieren. Wieso tun sie das jetzt nicht mehr?

Belghith: Man wird davon wohl irgendwann müde. Wenn sich nach Protesten nicht wirklich etwas ändert, gibt man auf. Gegen das Budget für das Jahr 2018 wurde etwa wochenlang protestiert, aber es wurde trotzdem verabschiedet. Und in diesem Diskurs, in dem ständig davon gesprochen wird, wie gut es uns in Tunesien geht, glauben manche vielleicht auch, dass sie dankbar sein sollten.

STANDARD: Auch bei feministischen Errungenschaften gilt Tunesien oft als Vorreiter, Abtreibung ist etwa bis zur zwölften Woche legal, Polygamie wurde verboten. Trügt der Schein?

Belghith: Es stimmt schon bis zu einem gewissen Grad – genauso wie eben mit der Politik, die Erfolge sind relativ. Tunesien ist bei Frauenrechten auf einem anderen Weg als viele Staaten der Region. Das neue Gesetz gegen Gewalt an Frauen ahndet etwa Vergewaltigung auch dann, wenn der Täter das Opfer heiratet, das ist erstmalig in einem arabischen Land. Mit dem Gesetz zur Geschlechterparität wird Frauen eine fast 50-prozentige Quote auf Kandidatenlisten eingeräumt. Wir haben viele Fortschritte gemacht.

STANDARD: Wie bewerten Sie das geplante Gesetz zur Gleichstellung von Frauen und Männern beim Erbrecht? Bisher erbten Söhne doppelt so viel wie ihre Schwestern.

Belghith: Das neue Gesetz ist ein notwendiger Schritt, der in Tunesien umgesetzt werden wird. Aber die Mehrheit der Menschen ist eigentlich dagegen, und nicht nur Konservative, inoffiziellen Umfragen zufolge sogar 80 Prozent der Frauen. Das liegt daran, dass das im Koran explizit geregelt ist. Bei anderen Themen gibt es Interpretationsspielraum, beim Erbrecht nicht. Es gibt viele Familien, die ein gleichberechtigtes Erbrecht befürworten, denen es aber unangenehm ist – eben weil sie damit gegen einen explizite Vorgabe des Koran verstoßen würden. Viele religiöse Vorschriften wie Kopftücher oder lange Bärte waren bis zum Sturz von Ben Ali nicht legal, viele Menschen empfinden, dass ihre eigene Religion 50 Jahre lang angegriffen wurde – und wollen das jetzt nicht wieder. Es ist ein sehr kompliziertes Thema.

STANDARD: Warum will die Regierung das Erbrecht dann ändern?

Belghith: Die Motivation hinter diesem Gesetz ist unehrlich, es wurde als politische Karte gespielt. Initiativen wie das gleichberechtigte Erbrecht oder dass Musliminnen auch Nichtmuslime heiraten können – das sind keine unschuldigen Vorschläge. Präsident Beji Caid Essebsi hat das Thema Erbrecht einen Tag nach der Unterzeichnung des Versöhnungsgesetzes angesprochen. Hier gibt es eine Tendenz, ehemalige Regimevertreter zu schützen und die Beziehungen mit ihnen zu normalisieren. Man will vorwärts kommen, spricht aber nicht über Verantwortung. Der Fokus liegt auf Versöhnung – aber diese kann erst nach Klärung der Verantwortlichkeiten, nach Entschädigungen kommen. Versöhnung ist nicht möglich, ohne die alten Wunden aufzureißen. Als Essebsi die Änderung des Erbrechts vorschlug, demonstrierten Frauen gerade in Sidi Bouzid, sie traten in Hungerstreik und forderten Arbeitsplätze, Investitionen, Würde, ein Minimum an Erwerbschancen. Ich garantiere, dass diese Frauen sich nicht um das Erbrecht oder die Frage, wen sie heiraten dürfen, scheren, sie wollen leben. Solche Initiativen verdrängen die echten Kämpfe der Tunesierinnen.

STANDARD: Setzt die Regierung die falschen Schwerpunkte bei feministischen Themen?

Belghith: Natürlich ist es nicht falsch, über gleichberechtigtes Erben zu sprechen, ganz und gar nicht. Es ist notwendig. Aber sich auf religiös-kontroverse Themen zu beschränken und die sozioökonomische und regionale Perspektive auszublenden ist problematisch. Solche Themen kann man natürlich auch medial besser verkaufen. Damit steigt die Regierung in die Fußstapfen der ehemaligen Herrscher Habib Bourguiba und Zine el-Abidine Ben Ali, die bereits das Thema Frauenrechte genutzt haben, um von Menschenrechtsverletzungen abzulenken. Es wird auch jetzt auf ähnliche Art und Weise verwendet. Auch Essebsi ist etwa nicht an Fabrikarbeiterinnen interessiert, die ohne Vertrag tätig sind, weit unter dem Mindestlohn entlohnt werden und stetigen sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind.

STANDARD: Vieles ist also immer noch so wie zu Zeiten Ben Alis?

Belghith: Es gibt Veränderungen auf legistischer Ebene und in der Verfassung, das Gesetz gegen Rassismus ist etwa revolutionär. Der demokratische Prozess, die Institutionen verändern sich, Wahlergebnisse werden respektiert, es gibt weniger Verstöße, die Beteiligung ist höher. Aber wirkliche Veränderungen im System gibt es kaum. Nepotismus und Korruption sind immer noch große Probleme.

STANDARD: Was müsste sich ändern?

Belghith: Der politische Wille und die richtige Führung fehlen derzeit. Die feministischen Bewegungen sollten außerdem nicht in die Falle der Regierung tappen und Einheit zeigen – beim Gesetz zur Parität haben die Parlamentarierinnen etwa über alle ideologischen und politischen Grenzen hinweg kooperiert. Das könnte helfen, dem begrenzten, vom Staat gelenkten Feminismus zu begegnen, der die sozioökonomischen Probleme von Frauen ausblendet. So sehr ich eine Änderung des Erbrechts befürworte – wir müssen die Schwerpunkte ausweiten. Die Probleme der vergessenen Frauen, die es sonst nie auf die politische Agenda schaffen, die oft gar nichts mitbekommen von Themen wie Erbrecht. (Noura Maan, 26.10.2018)