In Zukunft braucht man keine Bibliotheken mehr." Das höre sie häufig, erklärt eine Architektin in Frederick Wisemans Dokumentarfilm Ex Libris: Die Public Library vonNew York. Warum sich diese Ansicht so hartnäckig hält? "Eben nur, weil die Leute bei Bibliotheken an ein Bücherlager denken oder an die Bibliothek ihrer Kindheit. Vielen Menschen ist nicht bewusst, was in Bibliotheken passiert und wie hoch der Bedarf ist."

Bildungszentrum für alle

Wenn so ein verengter Blick auf eine in die Jahre gekommene Institution auf den Punkt gebracht wird, ist mehr als eine Stunde des über dreistündigen Films vergangen. Wiseman hat die New York Public Library zu diesem Zeitpunkt mit einem Panorama genauer Beobachtungen längst als ein Paradebeispiel für eine überaus vitale, vielfältig genutzte Einrichtung öffentlichen Lebens ausgewiesen. Bereits im ersten Filmdrittel begegnet uns die 1911 eröffnete Bibliothek nicht nur als Hort der Bücher und prestigeträchtiger Veranstaltungsort, sondern als alltägliche Anlaufstelle und Bildungszentrum für alle sozialen Schichten.

Wichtige Anlaufstelle für Menschen jeden Alters: die New York Public Library und ihre Zweigstellen.
Foto: Filmladen Filmverleih

Der Evolutionsbiologe Richard Dawkins bricht bei einem Bibliotheksauftritt gleich am Anfang eine Lanze für unabhängiges Denken, gefolgt von Library-Mitarbeitern, die selbst auf obskure Fragen zu Einhörnern geduldig Auskunft geben. Auch bei der Suche nach aus Österreich eingewanderten Familienangehörigen wird geholfen.

Während der Musiker Elvis Costello anlässlich der Vorstellung seiner Autobiografie über die Verkürzung seines Images auf einen Unruhestifter reflektiert, fungiert eine Zweigstelle in der Bronx als Jobvermittlungscenter.

In einem Vortrag über den Islam wird an oberflächlicher Polemik gekratzt, in Kursen für Blinde Brailleschrift unterrichtet. Wohnungssuchende werden über entscheidende Fallstricke und Hilfestellungen aufgeklärt. Dazwischen immer wieder Bilder und nicht weniger genaue, Atmosphäre vermittelnde Töne von den unzähligen Leseräumen, Hallen, Gängen und Lagern, von Besuchern und Mitarbeitern. Mitunter ist es ein offenbar Wärme suchender Obdachloser, der ins Bild rückt.

Trailer zu "Ex Libris".
Filmladen Filmverleih

Was in Ex Libris völlig fehlt, ist das Buch als Fetisch. Wiseman interessiert sich nicht für die Sammlungsobjekte, sondern für die Funktionsweisen einer Institution. Seit seinem Debüt Titicut Follies (1967) über Patienten in einer geschlossenen Psychiatrie durchleuchtete er immer wieder Einrichtungen wie Spitäler oder Polizeistationen auf ihre Machtmechanismen. Mit seiner jüngsten Arbeit Monrovia, Indiana, die bei der heurigen Viennale (30. 10. und 6. 11.) zu sehen sein wird, rückt der mittlerweile 88-jährige Filmemacher mit einer US-Kleinstadt das Flyover-Country in den Fokus.

Für Ex Libris tauchte Wiseman 2015 zwölf Wochen in das berühmte Hauptgebäude der New York Public Library an der 5th Avenue und in ein Dutzend ihrer insgesamt 92 Zweigstellen ab. Wie immer verzichtete er beim Verweben seiner Beobachtungen auf direkte Interviews, Off-Kommentare oder Einblendungen.

Ringen um Finanzierung

Die Bedingungen des Bibliotheksbetriebs legt Wiseman in der kontrastierenden Anordnung seines Materials offen. So sind nicht nur die Nutzung, sondern auch das Ringen um die mittels Public-Private-Partnerships bewerkstelligte Finanzierung Thema. Dass es dabei möglichst einfache Botschaften für die Politik braucht, wird in einer Sitzung der Bibliotheksvorstände ausgesprochen. Einer der Sitzungsteilnehmer benennt dabei den "Elefanten im Raum": jene soziale Ungleichheit, der auch mittels digitaler Inklusion entgegengearbeitet werden soll.

"Es gibt keine perfekte Bibliothek", räumt die mit der Renovierung der New York Public Library betraute Architektin ein. Dass die New Yorker Variante Wisemans Ideal von Wissenserwerb als demokratischem Akt sehr nahe kommt, daran lässt sein lohnendes Porträt dieser Institution keinerlei Zweifel aufkommen. (Karl Gedlicka, 25.10.2018)