Michael Kosfeld versucht über Experimente und Feldversuche herauszufinden, unter welchen Bedingungen Menschen einander vertrauen.

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Jede Gesellschaft und jede Organisation besteht aus Kooperationswilligen und Trittbrettfahrern. Mit den richtigen Regeln und geeigneten Führungskräften lasse sich aber das Beste aus einer diversen Gruppe herausholen, sei es eine Firma oder eine ganze Nation, erklärt Michael Kosfeld. Durch ausgetüftelten Vertrauensspiele mit Polizeibewerbern und Menschenrechtsaktivisten oder Feldversuchen in Äthiopien geht der Verhaltensökonom den Motiven menschlicher Zusammenarbeit auf den Grund. Von asozialen Chefs und Männerseilschaften bis zum Aufstieg rechter Populisten und dem nahezu extremen Eifer mancher NGO-Unterstützer erklären urmenschliche Verhaltensmuster, wann es kracht und wann alle an einem Strang ziehen.

STANDARD: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Stimmt das?

Kosfeld: Nein. Die ursprüngliche Version dieses russischen Sprichworts heißt übrigens: Vertraue, aber prüfe nach. Das zeigt wesentlich klarer, dass es nicht um einen Widerspruch geht, sondern darum, als ersten Schritt Vertrauen zu wagen. Das sollte nicht blind geschehen, aber für die Kooperation ist das wichtig. Voreilige Kontrolle hat sogar negative Folgen, konnten wir zeigen.

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Kontrolle ist nicht unbedingt besser als Vertauen: Mitarbeiter, die sich dauernd über die Schulter schauen lassen müssen, sind demotiviert und leisten weniger.
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STANDARD: Wie denn?

Kosfeld: Wir haben dazu ein Kooperationsspiel gemacht. Jeweils zwei Personen, die einander nicht kennen, nehmen die Rollen eines Chefs und eines Mitarbeiters ein. Der Mitarbeiter erhielt rund 20 Euro, die er quasi als seinen Einsatz für die Firma zwischen sich und dem Chef aufteilen kann. Der Chef wiederum durfte, wenn er wollte, vorab ein bestimmtes Minimum von circa einem Euro festlegen, das der Mitarbeiter ihm geben muss.

STANDARD: Eine Kontrolle, damit der Chef keinesfalls leer ausgeht.

Kosfeld: Genau. In unserem Experiment hat sich aber gezeigt, dass jene in der Rolle des Mitarbeiters freiwillig mit dem Chef teilen. Aber wenn der Chef vorher diese Kontrolle, das Minimum, festgelegt hat, gaben die Mitarbeiter im Schnitt viel weniger, als wenn man ihnen die Entscheidung vollkommen frei ließ. Das Minimum festzulegen wurde als Signal des Misstrauens wahrgenommen.

STANDARD: Was bedeutet das für Unternehmen?

Kosfeld: Kontrollmaßnahmen können Leute demotivieren. Sie leisten dann weniger, das sind versteckte Kosten. Und wenn durch Kontrolle die Leistung sinkt, fühlen sich Chefs oft auch noch in ihrem Misstrauen bestätigt und greifen härter durch.

STANDARD: Ein Teufelskreis?

Kosfeld: Ja, ein Teufelskreis. Eine ältere Anekdote bei General Electric (GE) zeigt das gut: Damit keine Ausrüstung vom Arbeitsplatz verschwand, gab es bei GE einen strengen Prozess der Registrierung, die Firma wusste immer, wer was wo hat. Statt an einer Idee zu Hause zu tüfteln, haben sich Mitarbeiter den Spießrutenlauf, die Geräte dafür auszuborgen, oft gar nicht angetan. Das bremst Innovation. Noch schlimmer für die Firma war, dass Mitarbeiter das demonstrative Misstrauen dazu provoziert hat, irgendwie doch Equipment an der Sicherheit vorbeizuschummeln und irgendwo Mikroskope zu horten, fast wie ein Sport. Das Management griff dann wieder härter durch und so weiter.

Bei Frauen sinkt die Kooperation, wenn man einander nicht sympathisch ist, deutlich, bei Männern nicht, zeigen Experimente. Das bevorteile Männer bei der Bildung von Seilschaften und Netzwerken.
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STANDARD: Aber blindes Vertrauen ist ja auch nicht gut?

Kosfeld: Vertrauen birgt immer ein Risiko, man geht in Vorleistung. Wenn das Gegenüber nicht kooperiert, steigt man schlecht aus. Aber selbst Menschen, die von Natur aus vertrauensvoll sind, stellen Kooperation sofort ein, wenn das Gegenüber egoistisch ist. Aus der Forschung wissen wir, die Gruppen der Kooperativen und der Trittbrettfahrer sind etwa gleich groß.

STANDARD: Wie wirkt sich diese Mischung in der Praxis aus?

Kosfeld: Wir haben Feldversuche gemacht, um zu überprüfen, wie sehr der Erfolg einer Gruppe von deren Zusammensetzung aus Trittbrettfahrern und kooperativen Mitgliedern abhängt. Dazu waren wir bei Dorfbewohnern in Äthiopien, die mithilfe eines deutschen Entwicklungshilfeprojekts einen Forst zur Bewirtschaftung erhielten. Das Waldgebiet ist in gleich große Einheiten aufgeteilt, und die Dorfbewohner kümmerten sich in gleich großen Teams um je einen Abschnitt. Am Zustand der Bäume konnten wir messen, wie erfolgreich die Teams waren. Mit unseren Kooprerationsspielen fanden wir auch heraus, wie sich die Teams aus Kooperativen und aus Trittbrettfahrern zusammensetzten. Die kooperativen Gruppen hatten den Wald besser bewirtschaftet. Das ist nicht erstaunlich, bildet aber die Grundlage für weitere Untersuchungen.

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Feldversuche und Labortests zeigen: Die Verteilung von kooperativen Menschen und Egoisten unter äthiopischen Dorfbewohnern und Schweizer Studenten ist ziemlich gleich. Wie stark das tatsächlich an den Tag gelegte Vertrauen in einer Gruppe ist, hängt sehr von der Qualität ihrer Chefs ab.
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STANDARD: Etwa wie man mit Trittbrettfahrern umgehen soll?

Kosfeld: Sanktionen. Interessanterweise setzen sich kooperative Leute in der Gruppe auch besonders dafür ein, dass Trittbrettfahrer erwischt werden. In unserem Beispiel patrouillieren sie den Wald und achten darauf, dass sich niemand an Bäumen bedient, die noch wachsen sollten. Aber wirklich bestrafen kann nur der Chef, an dem hängt also sehr viel.

STANDARD: Und wenn der Chef zu lasch ist?

Kosfeld: Wir haben auch getestet, welche Einstellung zu Sanktionen Chefs in Gruppen haben. In einem Spiel, wo es wieder um echtes Geld ging, haben wir den Chefs gezeigt, wie sich zwei ihrer Gruppenmitglieder in einem Kooperationsspiel verhalten haben. Dann hatten die Chefs die Option, sie zu bestrafen, allerdings auf eigene Kosten. Gut die Hälfte der Chefs bestrafte niemanden, weil es sie eigenes Geld gekostet hätte. Etwa vierzig Prozent straften jene, die nicht kooperierten, insbesondere wenn sich der andere hilfsbereit gezeigt hat. Dann gab es noch eine dritte Art von Chef, der hat den Kooperativen bestraft oder willkürlich Sanktionen ausgeteilt – immerhin acht Prozent. Wir nennen das antisozial.

STANDARD: Nett ausgedrückt. Wie stark wirkt sich die Art des Chefs auf den Erfolg der Gruppe aus?

Kosfeld: Der Effekt ist stark. Mit einem antisozialen Chef war der Erfolg der Gruppe um ein Drittel niedriger als der Durchschnitt. Mit einem Chef, der auf Kooperation achtet und Fehlverhalten sanktioniert, war der positive Effekt auf den Wald umso größer.

STANDARD: Ein guter Chef sanktioniert also die Trittbrettfahrer?

Kosfeld: Ja, in der Praxis reicht dazu oft ein Gespräch oder ein Hinweis. Es gibt den sogenannten "false consensus effect", dass Menschen annehmen, ihr Verhalten sei allgemein im Betrieb oder in der Organisation gängig. Allein schon der Hinweis "Andere machen das nicht so" kann sehr viel bewirken.

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Sanktionen wirken nicht nur abschreckend auf notorische Regelbrecher. Sie fördern das Vertrauen der Rechtschaffenen, dass alles fair abläuft.
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STANDARD: Stimmt das Klischee, dass Männer eher zu Ellbogentaktik neigen und Frauen kooperativer sind?

Kosfeld: Eigentlich nicht. In unseren Versuchen haben wir gesehen, dass es davon abhängt, wie sympathisch das Gegenüber ist. Klar, gemeinsame Sympathie trägt zu Kooperation bei. Aber bei Frauen sinkt die Kooperation, wenn man einander nicht sympathisch ist, deutlich. Den Männern ist das hingegen egal, die kooperieren immer gleich viel. Männer bevorteilen einander, indem sie schlicht Antipathie ignorieren, wenn es um Netzwerken, Beförderungen, Teamwork et cetera geht, während Frauen selektiver vorgehen.

STANDARD: Gibt es im Kooperationsverhalten starke regionale Unterschiede?

Kosfeld: Der Anteil der Egoisten beziehungsweise der Kooperativen variiert weltweit zwischen einem Fünftel und der Hälfte. Einer der Erklärungsversuche für die Unterschiede ist die Erfahrung mit direkter Demokratie. In der Schweiz ist der Anteil der Trittbrettfahrer in jenen Kantonen mit der längsten demokratischen Tradition am niedrigsten. Umgekehrt hat ein Experiment gezeigt, dass das Vertrauen und kooperatives Verhalten in Russland gering ist. Die Theorie dahinter lautet, dass die Erfahrungen mit der sowjetischen Willkür noch immer nachwirken. Selbst konformes Verhalten konnte damals bestraft werden. Damit hat auch eine Sanktion nicht mehr die Funktion, Leute zu Kooperation zu motivieren. Ähnliche Muster sehen wir in Griechenland, wo das Vertrauen in die politischen Institutionen gering ist. Das schlägt negativ auf das Vertrauen der Menschen durch.

STANDARD: Wenn man das alles aufs Politische überträgt, bei uns oder in den USA, kommen die richtigen Führungskräfte an die Spitze?

Kosfeld: Ich befürchte, manchmal nicht, wenn man sich etwa anschaut, dass die Amerikaner Donald Trump ins Amt gewählt haben. Wir wissen aber viel zu wenig, wie bestimmte Führungspersönlichkeiten an die Macht kommen. Hypothesen aus der Anthropologie deuten darauf hin, dass es zwei Wege zur Macht gibt: Prestige und Aggression.

STANDARD: Prestige ist klar. Wieso gelingt es, mit Aggression und Druck gewählt zu werden?

Kosfeld: Es gibt Indizien, dass Gruppen dazu neigen, dominante und aggressive Anführer zu wählen, wenn sie im Konflikt mit einer anderen Gruppe stehen. Das lässt sich instrumentalisieren – so wie Trumps Narrativ "America First", das vorgibt, man brauche Schutz und jemanden, der mal auf den Tisch haut.

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Donald Trump hat die USA polarisiert. Seine Wähler sahen ihr Land in Gefahr. Seine Gegner sehen ihr Land in Gefahr durch ihn – beides schweißt innerhalb der Gruppen zusammen.
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STANDARD: Sind Demokratien da angreifbar?

Kosfeld: Das sehen wir jetzt wieder. Nach dem Kalten Krieg dachte man, alles wird gut, aber dass es auch Gegenbewegungen gibt, wird uns jetzt wieder bewusst. Das Vertrauen in politische Institutionen ist gesunken, auch in anderen Bereichen wie der Wissenschaft. Die Ökonomie hat darunter gelitten, dass sie nicht die Finanzkrise vorhergesehen hat. Dabei sind wissenschaftliche Aussagen meist viel zu komplex, um einfache Antworten zu geben. Wenn sich echte oder sogenannte Wissenschafter hinstellen und behaupten, genau zu wissen, wie die Welt läuft, sollte man schon weghören.

STANDARD: Wenn etwa die AfD in Deutschland vor Migration aus fremden Kulturen warnt, weil dadurch das Vertrauen innerhalb der Gesellschaft untergraben wird, schürt sie da nur Angst? Oder ist das berechtigt?

Kosfeld: Ja mit dieser Angst wird gespielt, zum Teil ist sie auch berechtigt. Weil Menschen auf Fremdes misstrauisch reagieren. Das sieht man auch in der Forschung, wenn wir Vertrauensspiele machen und dabei den Teilnehmern ein Bild ihres Mitspielers zeigen. Kooperation klappt viel besser, wenn das Gegenüber so aussieht wie man selbst. Dazu kann man Bilder mit dem Computer schrittweise morphen. Da muss man gar keine ethnischen Merkmale einbauen, ich kann innerhalb einer Kultur bleiben und die Person einfach ähnlicher zum Spieler machen, das Vertrauen steigt. Das sind tiefe evolutionäre Mechanismen in uns.

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Fremdes erweckt misstrauen und senkt die Vertrauensbereitschaft – ein evolutionärer Urinstinkt.
Foto: Reuters / Hannibal Hanschke

STANDARD: Ein unüberwindbares Hindernis für Multikulti?

Kosfeld: Nein. Der Mensch ist auf der Erde einzigartig darin, mit nichtgenetisch Verwandten zu kooperieren. Weil wir es schaffen, über Regeln und Institutionen für Vertrauen einen Spielraum zu schaffen, auch über Unterschiedlichkeit hinweg.

STANDARD: Wie geht das in einer Gesellschaft, die sich verändert und deren Politiker sagen, wir müssen uns vor Fremden schützen?

Kosfeld: Die Forderung ist utopisch. Wir leben schon lange nicht mehr in einer homogenen Gesellschaft. Die Pluralität nimmt heute zu, wir müssen uns ihr stellen.

STANDARD: Also selbst wenn man eingesteht, dass eine kulturelle Durchmischung das Vertrauen zunächst untergräbt, ist es kontraproduktiv, darauf herumzuhacken?

Kosfeld: Absolut. Sogar rein ökonomisch betrachtet ist Vielfalt gut. Diversität hat uns weitergebracht, sich im Kokon einzuschließen war langfristig nie erfolgreich. Mit den richtigen Institutionen überwindet man das Misstrauen.

STANDARD: Wie schauen die aus?

Kosfeld: Wichtig ist eine politische Führung, die sicherstellt, dass Nichtmotivierte trotzdem kooperieren. Dazu braucht man Sanktionen. Dann werden grundsätzlich kooperative Menschen mit Vertrauen in Vorleistung gehen. Politik, Rechtsstaat, aber auch die Polizei müssen dafür sorgen, dass alle die Regeln des Systems einhalten, egal wo man herkommt.

STANDARD: Die Auswahlkriterien bei der Exekutive werden oft kritisch beleuchtet. Gehen die Richtigen zur Polizei?

Kosfeld: Wir wissen aus Umfragen, dass Polizisten, zumindest in Deutschland, hohes Vertrauen genießen. Mit Tests wollten wir herausfinden, ob sich besonders viele vertrauenswürdige Menschen bei der Polizei bewerben, oder ob die Kandidaten erst durch diese Rolle, durch Training und Erfahrung hineinwachsen. Wir haben wieder mit Vertrauensspielen festgestellt, dass Polizeibewerber vertrauenswürdiger sind als der Schnitt. Sie setzten sich auch stärker dafür ein, Trittbrettfahrer auf eigene Kosten zu bestrafen. Gleichzeitig schenken sie selber eher Vertrauen.

STANDARD: Woran liegt das?

Kosfeld: Polizeibewerber sind auch überdurchschnittlich risikobereit. Vertrauen bedeutet ja immer, ein Risiko einzugehen. Beides passt zum Berufsbild der Exekutive, so wie wir es uns als Gesellschaft auch wünschen.

STANDARD: Sollte man Ihre verhaltensökonomischen Tests bei der Rekrutierung verwenden?

Kosfeld: (lacht) Nein, leider. Die Bewerber durchschauen das ja und würden ihr Verhalten entsprechend anpassen. Ich glaube, es melden sich die richtigen Leute auch deswegen, weil die Polizei gute Weiterbildung und Aufstiegsmöglichkeiten bietet. Aus gesellschaftlicher Sicht ist es wichtig, darin zu investieren. Wenn jemand mit Matura in den Polizeiberuf startet, später einen Bachelor und dann einen Master machen kann, ist das sehr attraktiv.

Die Polizei spielt eine wichtige gesellschaftliche Rolle. Damit motivierter Nachwuchs künftig die Exekutive verstärkt, sollte in Karrieremöglichkeiten auch nach dem Berufsantritt investiert werden.
Foto: APA / Herbert Neubauer

STANDARD: Sie haben Vertrauensspiele auch mit Unterstützern von NGOs gemacht. Sind Wohltäter auch vertrauenswürdiger?

Kosfeld: Wir haben Versuche mit Studenten gemacht, die wir fragten, wie sehr sie sich mit Zielen bestimmter NGOs wie Amnesty International identifizieren. Jene, die für Ziele der NGO einstanden, sind auch im Schnitt kooperativer. Wenn NGO-Unterstützer wissen, dass ihr Mitspieler ihre Einstellung teilt, sind sie besonders großzügig. Aber wenn sie wissen, dass ihr Mitspieler der NGO gleichgültig gegenübersteht, schränken sie ihre Kooperation sehr stark ein.

STANDARD: Erklärt das, warum unsere Gesellschaft in der Migrationsfrage derzeit so stark gespalten ist?

Kosfeld: Ja, das erklärt das auch. Unsere Kooperationsbereitschaft ist nicht konditionslos, sie ist zerbrechlich. Wenn etwas die Gesellschaft polarisiert, fördert das zwar die Kooperation in den Gruppen, unterwandert sie aber zwischen ihnen. Wir sollten versuchen, jenen, die vielleicht an ein älteres Bild der Identifikation mit einer Nation, einem Land gewöhnt sind, Sicherheit zu geben in einer Welt, in der diese Identitäten aufbrechen. Man muss das Gemeinsame in den Mittelpunkt stellen. (Leopold Stefan, 26.10.2018)