Persönliche Geschichten für das Kino: Radu Muntean.


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Alice ist schwierig. Oder jedenfalls glaubt das ihre alleinerziehende Mutter, die mit ihrer 16-jährigen Adoptivtochter in Bukarest lebt. Dabei ist Alice' Rebellion möglicherweise ein Hilferuf. Und das Kind, das sie zur Welt bringt, soll dabei helfen: Alice T. ist ein Film über den unerhörten Wunsch, geliebt zu werden.

Ein rotzig-frecher Teenager, für den immer nur der nächste Tag der wichtigste ist: Andra Guti wurde für ihre Darstellung der Alice T. in Locarno mit dem Preis für die beste Schauspielerin ausgezeichnetPersönliche Geschichten für das Kino: Radu Muntean.
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STANDARD: Warum hat Sie an einer Geschichte über einen Mutter-Tochter-Konflikt interessiert?

Muntean: Es gibt einen autobiografischen Hintergrund. In dem Haus, in dem ich aufwuchs, lebte auch mein Onkel, der nur elf Jahre älter ist als ich und von dem alle meinten, er sei der jüngere Bruder meiner Mutter. Bis sich eines Tages herausstellte, dass er schon als kleiner Bub adoptiert worden war. Er war damals 21 Jahre alt, packte seine Sachen und verließ uns für immer. Ich war damals noch ein Kind, aber das Gefühl, wie man mit dieser Erfahrung umgeht, ist geblieben. Heute denke ich, dass ich meinen Onkel damals ungerecht beurteilt habe, weil ich sein Gehen nicht verstehen konnte.

STANDARD: Haben Sie damit zum ersten Mal ein Stück Familiengeschichte im Kino verarbeitet?

Muntean: Tatsächlich erzählen alle meine Filme auch etwas aus meinem Leben, obwohl sie natürlich nicht autobiografisch sind. Das hat mit Interesse zu tun: Alles, was mich interessiert, hängt mit Erinnerungen und Erlebnissen zusammen, die natürlich sehr persönlich sind.

STANDARD: Ihr Film beginnt mit einer ungemein intensiven Szene, in der sich Alice und ihre Mutter gehörig in die Haare geraten. Sie etablieren damit von Beginn an den Konflikt, der sich im Laufe des Films aber erstaunlicherweise beruhigt. Das ist sehr untypisch.

Muntean: Ich wollte mit dieser ersten Szene gleich die gesamte Erzählung enthüllen. Alles ist schon angelegt: Dass Alice schwanger ist, dass ihre Mutter kein eigenes Kind zur Welt bringen konnte, dass sie womöglich genau deshalb so ablehnend reagiert. Man soll von Anfang an erfahren, wie stark die Beziehung zwischen Mutter und Tochter ist, aber auch erkennen, dass die beiden bereits einen langen Konflikt hinter sich haben. Und dass hinter der barschen Ablehnung der Mutter etwas anderes steckt. Was die Intensität betrifft: Ich habe Filme gemacht, die dafür kritisiert wurden, dass sie ein so langsames Tempo anschlagen. Jetzt ist es mal anders.

STANDARD: Sie führen den Konflikt aber nicht ursächlich darauf zurück, dass Alice adoptiert wurde.

Muntean: Nicht ursächlich, aber es spielt unbewusst eine Rolle. Alice macht das, was man sich von einem aufsässigen Teenager erwartet: Sie schreibt schlechte Schulnoten, ist ungehorsam und testet die Grenzen aus. Aber sie testet ihre Mutter auch als Adoptivmutter. Für die bedeutet das aber, dass damit ein absoluter Endpunkt erreicht ist.

STANDARD: Sie haben das starke Band zwischen Mutter und Tochter erwähnt: War es schwierig, die Balance zwischen diesen beiden Figuren zu bewahren?

Muntean: Es war das schwierigste Drehbuch, das mein langjähriger Co-Autor Alexandru Baciu und ich bisher schrieben, und es ist immerhin schon unsere fünfte Zusammenarbeit. Es sollte ein emotionaler, aber subtil erzählter Film werden, ohne dabei auf den bekannten "roten Knopf" zu drücken, mit dem man die Gefühle des Zuschauers ganz leicht beeinflussen kann.

STANDARD: Eigentlich zeigen Sie ja gar nicht das große Drama, sondern viele kleine.

Muntean: Alice hat keinen Masterplan. Sie lebt von einem Tag zum nächsten. Aber alles, was hier ganz beiläufig wirken soll, gehört natürlich zum Masterplan des Films. Das ist mein Ziel: dass der Film ein Echo im Kopf hinterlässt, dass er aufgrund seiner Glaubwürdigkeit möglichst lange nachwirkt. Darum geht es mir in allen meinen Arbeiten – dass sie statt des schnellen Effekts nachhaltig wirken. Spuren hinterlassen. Der Nutzen, sie gesehen zu haben, soll sich erst später ergeben.

STANDARD: Wie könnte das im konkreten Fall aussehen?

Muntean: Natürlich erzählt der Film die Geschichte von Alice, zugleich aber auch von Dingen, die wir uns alle wünschen: Bestätigung, Anerkennung. Und davon, sich bei den wichtigsten Entscheidungen allein zu fühlen.

STANDARD: Der europäische Autorenfilm kann auf eine erfolgreiche Tradition des realistischen Coming-of-Age-Films zurückblicken. Arbeiten wie "Rosetta" von den Brüdern Dardenne oder "Fish Tank" von Andrea Arnold haben diese maßgeblich mitbestimmt. Wo sehen Sie hier "Alice T."?

Muntean: Ich habe mir Rosetta noch einmal angeschaut, ehe ich zu schreiben begann. Die Dardennes haben mich sehr beeindruckt, und tatsächlich haben Rosetta und Alice etwas gemeinsam. Aber ich kann mich hier nicht selbst einordnen, was auch daran liegt, dass ich kaum Zeit finde, aktuelle Entwicklungen mitzuverfolgen. Natürlich sehe ich viele Filme zu Hause nach, aber welche Rolle Alice T. als Coming-of-Age-Film spielt, beurteilen bitte Sie. (Michael Pekler, 25.10.2018)