Identitätspolitik soll Marginalisierungen überwinden.

Ilustration: Michael Murschetz

Die identitätspolitische Kritik von Minderheiten bildet die Stärke, nicht die Schwäche linker Bewegungen.

Fotos: Jens Kastner, Lisa Rastl

Die meisten Linksparteien, behauptet Francis Fukuyama im STANDARD (13./14. Oktober 2018), hätten im Zuge der Globalisierung ihre Strategie verändert. Sie hätten sich nicht mehr um die "wirtschaftlich Ausgebeuteten" gekümmert, sondern sich "auf immer kleinere Gruppen" konzentriert, "die auf spezifische und individuelle Weise marginalisiert werden".

Der Politikwissenschafter Fukuyama, der für die dem Pentagon nahestehende Denkfabrik RAND Corporation tätig war und mit seiner umstrittenen These vom "Ende der Geschichte" den Siegeszug des Liberalismus feierte, vertritt damit eine derzeit sehr beliebte Position: Seit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten mehren sich die Stimmen, die behaupten, die Auseinandersetzung um Identitätspolitiken (also etwa das Eintreten für Feminismus, LGBTIQ-Rechte, Black Lives Matter) hätte zunehmend die Beschäftigung mit Ausbeutung und sozialer Ungleichheit ersetzt. Linke Politik solle sich, fordert etwa auch der Politologe Mark Lilla, Autor des vielbeachteten Buchs The Once and Future Liberal: After Identity Politics, wieder Anliegen widmen, die "einem Großteil der Bevölkerung am Herzen liegen". Denn diese Themen würden nun von den Rechten besetzt, was sich bitter gerächt hätte.

Rache des Proletariats?

Doch zum Proletariat, das nun angeblich Rache übt, gehört nicht nur der weiße Rust-Belt-Arbeiter, sondern auch die afroamerikanische Uber-Fahrerin, die lateinamerikanische Pflegerin und die Asian-American im Callcenter. Angesichts des immer noch gewaltigen Gender- und Racial Pay-Gap müssten Afroamerikanerinnen sogar die allerersten Adressatinnen für rechtspopulistische Arbeitskampfrhetorik sein. Doch 94 Prozent der Afroamerikanerinnen wählten Clinton. "Niemand vermochte je zu begründen, warum gerade jene, die die New Economy am gründlichsten abgehängt hatte – nämlich die schwarze und die hispanischstämmige Arbeiterschaft -, sich nie zu Trumps Anhängern gesellten", erwidert deshalb der US-amerikanische Autor Ta-Nehisi Coates auf die Kritik an der Identitätspolitik.

Zudem war auch die Arbeiterbewegung, also die wichtigste Akteurin im Kampf gegen soziale Ungleichheit, eine identitätspolitische Bewegung. Schließlich sind all jene praktischen wie theoretischen Versuche, unter den Lohnabhängigen ein Klassenbewusstsein zu formieren, Formen von Identitätspolitik: Auch hier ging es nicht zuletzt darum, dass die Einzelnen sich kollektiv über die Arbeit und über ihre Klassenposition identifizierten. Auch die kollektive Identität der Arbeiterinnen und Arbeiter musste erst geschaffen werden.

Übertriebene Anklage

Linke Identitätspolitik gibt es also nicht erst seit den 1960er- oder gar den 1990er-Jahren, und sie ist auch nicht auf ethnische und andere Minderheiten begrenzt.

Fukuyamas Anklage der Identitätspolitik, die ihm zufolge gar die Demokratie in die Krise führe, ist also nicht nur maßlos übertrieben, sie ist schlichtweg falsch. Ob nun in der SPÖ, bei Labour oder der brasilianischen PT – wenn innerhalb der parlamentarischen Linken die soziale Frage vernachlässigt wurde, dann aufgrund neoliberaler Paradigmenwechsel und keineswegs deshalb, weil sie durch die identitätspolitischen Scharmützel von Splittergruppen ersetzt worden wäre. Für das 9,6-Prozent-Debakel der SPD bei der Bayernwahl ist also die Debatte um das vielgescholtene Transgenderklo definitiv nicht verantwortlich.

Dessen ungeachtet ist die Kritik an der Identitätspolitik so alt wie die linke Identitätspolitik selbst. Am berühmten "Hauptwiderspruch", also der kapitalistischen Ausbeutung, mit dessen Beseitigung sich auch alle anderen Unterdrückungsformen ganz von selbst in Wohlgefallen auflösen würden, arbeitet sich insbesondere die feministische Kritik schließlich seit bald 150 Jahren ab.

Eitle Kleinkriege

Bei dieser ausschließenden Gegenüberstellung des Kampfes um Anerkennung und des Kampfes gegen soziale Ungleichheit wird so getan, als ginge es bei Identitätspolitiken nicht auch um ernsthafte linke Anliegen wie Gleichberechtigung, Partizipation, Umverteilung und Befreiung. Die vielen Verknüpfungen von Politiken der Anerkennung kultureller Differenzen mit jenen gegen soziale Ungleichheit werden dabei übersehen. Doch die US-Bürgerrechtsbewegung in den 1960er-Jahren richtete sich gegen Armut ebenso wie gegen Rassismus, die Frauenbewegung verknüpfte stets Anerkennungs- mit Umverteilungsforderungen, und seit den 1990er-Jahren treten indigen geprägte Bewegungen in Lateinamerika gleichermaßen für die Anerkennung ihrer Lebensweise wie auch für ein "gutes Leben" ("buen vivir") für alle ein. Und diese Beispiele sind die Regel, nicht die Ausnahme.

Freilich ist nicht jede linke Identitätspolitik emanzipatorisch. Sie ist es vor allem dann nicht, wenn sie zur inhaltsleeren, essentialisierenden Repräsentationspolitik verkommt oder als Immunisierungsstrategie gegen Kritik missbraucht wird. Genauso wenig soll geleugnet werden, dass identitätspolitische Kleinkriege schon viel Kraft und Geschlossenheit gekostet haben und sie sich mitunter auch in eitlen Distinktionskämpfen erschöpfen. Aber unterm Strich bildet die identitätspolitische Kritik von Minderheiten dennoch gerade die Stärke und eben nicht die Schwäche linker Bewegungen. Denn Identitätspolitik zielt von ihrem Grundimpuls immer darauf ab, Marginalisierungen zu überwinden und Minderheitenpositionen zu integrieren, um so gemeinsam für größere Gerechtigkeit für immer mehr Menschen einzutreten. Nicht Spaltung ist also das Ziel, sondern vielmehr das, was vermeintlich verhindert wird: Solidarität. (Jens Kastner, Lea Susemichel, 26.10.2018)