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Cherchez la femme: drei Aktstudien des Berliner Zeichners Heinrich Zille aus dem Jahr 1910.

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Bücher haben ihre Schicksale, dieses hat ein besonderes. Es kommt nicht alle Tage vor, dass aus dem Archivdunkel ein Opus ans Licht der Öffentlichkeit gerät, welches einen Dichter mit dem Ruf eines Stockkonservativen schlagartig als Mega-Erotomanen dastehen lässt. Im Nachlass des deutschen Schriftstellers Rudolf Borchardt – nicht zu verwechseln mit dem aus der Schule bekannten Wolfgang Borchert (Draußen vor der Tür) – wurde 2012 ein tausend Seiten starkes Romanfragment Weltpuff Berlin gefunden. Es hält, was sein Titel verspricht. Borchardts Erben, besorgt, dessen Ruf könnte beschädigt werden, legten sich lange gegen die Veröffentlichung quer. Der komplexe Streit endete vorläufig damit, dass das Weltpuff nun in Buchform vorliegt.

Borchardt, 1877 als Sohn eines wohlhabenden jüdischen Kaufmanns in Königsberg geboren und in Berlin aufgewachsen, studierte Altphilologie und Archäologie, geriet aber bald in den literarischen Bannkreis von Stefan George und Hugo von Hofmannsthal. Dauerzwist mit seinem Vater wegen seiner unabgeschlossenen Dissertation veranlasste ihn, sich nach Italien abzusetzen, wo er sein Dasein als Poet und Privatgelehrter fristete. 1944 wurde er von der SS erst verhaftet und dann freigelassen. Ein Jahr später starb er in Tirol, wo er in Trins am Brenner begraben liegt.

Singuläres Romanmonster

"Pornografisch" wird man einen Roman, der im Wesentlichen anhaltendes Rammeln in diversesten Positionen und Konstellationen schildert, wohl nennen dürfen. In einer Zeit, da das Internet die Bevölkerung zuverlässig von Jugend an mit Hardcoreporn versorgt, sollte ein solches Buch wenig Anlass für emotionalen Überschwang geben. Aber die Begeisterung Martin Walsers, eines erotisch nicht Unbeleckten, über den unvermuteten Fund hat einiges für sich. Borchardt, meint Walser, lasse gar Klassiker wie Casanova "flach" und Henry Miller "einfach" aussehen. Tatsächlich ist Weltpuff Berlin ein singuläres Romanmonster, das nicht nur Germanisten zur Freude gereichen sollte, sondern kraft seines sprachlichen, ästhetischen und kulturhistorischen Mehrwerts ein klarer Phall für einen Sonderplatz in der deutschen Literatur ist.

In seinem gegen Ende der 1930er fertiggestellten Sexualepos schickt Borchardt einen 24-jährigen Don Juan an der Wende vom 19. zum 20. Jhd. auf eine wahrhaft ausschweifende Vögeltour durch Berlin und Umgebung (großer Metropolenroman im Bumsen inbegriffen). Der junge Mann ist nicht nur finanziell, sondern auch anatomisch gut ausgestattet, mit einem Stahlpenis, der "etwas länger und am Kolben stärker" ist als das Durchschnittsgemächt und über einen "hochschwellenden Knopf von Hühnereigrösse" verfügt, welcher sich beim GV "luftdicht durch die weiblichen Schlünde des Vergnügens" schiebt. Eine solche Gabe sollte man nicht verkommen lassen.

Kein Exklusivvergnügen

Und so tröstet sich der junge Libertin gleich eingangs über einen Zank mit dem Vater hinweg, indem er sich das Dienstmädchen Martha, "jung, weich und hellblond", in extenso zur Brust nimmt. Laut Martha, der Maid aus dem Volke, war der Geschlechtsverkehr im kaiserlichen Berlin keineswegs Exklusivvergnügen höherer Stände: "Bei uns was nich arbeiten essen und schlafen ist, das ist vögeln, durch die Bank, jede Minute". In diesem Umfeld steht selbst der Klerus nicht abseits. Der für seine "Stahlrute" renommierte Pfarrer von Kolzin besorgt es den Konfirmandinnen "in den Hintern, denn dann wäre es keine Sünde". Bill Clinton lässt, cum grano salis, grüßen.

Zu erforschen, wo die Abenteuer des Rudolf Borchardt (als solcher bezeichnet sich der Icherzähler) autobiografisch sind und wo Fiktion, wird noch Generationen von Philologen beschäftigen. Im Weltpuff Berlin können sich aber auch wissenschaftlich Unambitionierte an einer Wortorgie delektieren, die das gängige Unterleibsvokabular (Rute, Möse, Schnecke, Steifer etc.) transzendiert und bereichert, wenn etwa Rudolf seinen "Kolossalspargel" im "Frauenmäulchen" versenkt.

Grundsympathisch

Borchardts Bestreben, seine Partnerinnen nicht als verkappte Geschlechtsorgane zu sehen, sondern als Individualitäten, die von ihrer Weiblichkeit je eigenen Gebrauch machen, geben dem Buch einen grundsympathischen Zug. Es ist eine Ode an die Frauen, und das Gesetz, das über ihm herrscht, ist das Gesetz der Gleichberechtigung in der Geilheit. Wenn Rudolf seine Partnerinnen gelegentlich strenger anfasst, kommt er seinerseits von einer Orgie mit Dolly, Karin und Ines am ganzen Körper "zerbissen" nach Hause.

Fast rührend ist das exorbitante Interesse, das Borchardt den schier unendlichen Möglichkeiten des Küssens entgegenbringt: Flüsterküsse, Hurenküsse, Lippenrausch, Mundbesitz - "jede Frau küsst anders, wie sie anders lacht". Kussbeschreibungen in dieser Länge, Breite und Feuchtigkeit sind wohl ein Unikum in der Weltliteratur. Auch in dieser Hinsicht ist Weltpuff Berlin eine Fundgrube, die auszuschöpfen Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird. (Christoph Winder, 27.10.2018)