Ich habe bereits früher einmal in meinem Nachhilfe-Blog über die strukturelle Veränderung der Prüfungsdesigns in der AHS-Oberstufen-Mathematik geschrieben. Und vor allem darüber, wie es die Schüler und auch mich als Nachhilfelehrer betrifft. Inzwischen sind die "heiß-geliebten" Grundkompetenzen ja nicht mehr neu. Die aktuellen Maturanten hatten ja volle vier Jahre Zeit, sich darauf einzustellen. Ich habe auch schon erklärt, wie sich die Prüfungsmodalitäten geändert haben und welche Auswirkungen – gewollt und ungewollt – diese auf unsere Schüler hatten beziehungsweise haben.

Mathematische Perfektion gefordert

In meiner täglichen Praxis sehe ich alle Varianten von Grundkompetenzen. Vor allem sehe ich die Art und Weise, wie das mathematische Wissen meiner Schüler angeblich abgefragt wird. Und genauso oft nehme ich wahr, wie junge Menschen an diesem neuen "Kompetenzenprüfungsstil" scheitern, obwohl sie – wie man so schön sagt – brav gelernt und sich wirklich angestrengt haben. Früher wäre es nur eine schlechtere Note gewesen. Heutzutage ist es gleich ein Fünfer auf die Schularbeit. 

Nicht mehr der Lösungsweg ist entscheidend, sondern nur mehr das Ergebnis.
Foto: www.istockphoto.com/at/portfolio/zorabcde

Da ich mir das bereits seit Jahren anschauen muss, bin ich klarerweise nicht der Ansicht, dass unsere Schüler mathematisch unbegabter geworden sind, sondern dass damals per Gesetz ein Mechanismus der mathematischen Perfektion eingeführt wurde, den jetzt alle im Schulsystem exekutieren. Es gibt ab der Oberstufe beziehungsweise spätestens ab der 7. Klasse nur mehr eine binäre Form der Beurteilung der Grundkompetenzen-Beispiele: Richtig oder falsch. Es ist vollkommen egal, welche Gedanken oder Ideen zu einem Ankreuzen geführt haben. Friss oder stirb!

Null Punkte

An dieser Stelle möchte ich ein Foto aus einer Schularbeit der 5. Klasse zeigen, damit – abseits der mathematischen Inhalte – ersichtlich wird, wie diese neue Methode in der Realität ausschaut:

Schularbeit aus der 5. Klasse einer AHS-Oberstufe.
Foto: Rainer Saurugg

Im oberen Beispiel finden sich fünf Aussagen rund um quadratische Funktionen. Bei diesem Format ist es offen, wie viele richtige Aussagen sich darunter befinden: Es könnte nur eine sein oder auch gleich alle fünf. Alles ist möglich. 

Was hat mein Schüler hier gemacht? Er hat die 1. und 4. Aussage für richtig befunden und die 2. und 3. als falsch analysiert. Sein Fehler war, dass er sich bei der fünften und letzten Aussage geirrt hat. Wie Sie dem Foto entnehmen können, bekam er dafür null Punkte. Man könnte auch argumentieren, dass er mit vier von fünf bewerteten Aussagen klare 80 Prozent richtig hat. Das hat aber keinen Einfluss.

Beim unteren Beispiel mussten vier Aussagen mit den richtigen vier aus sechs möglichen linearen Funktionen in Beziehung gesetzt werden, sprich: Wo trifft was zu? Was hat er nun hier falsch gemacht? Drei Zuordnungen waren korrekt, die vierte Zuordnung war falsch. Klarer Fall auch hier: Null Punkte! 

Posting des Users "MeinKommentar".
Screenshot derstandard.at

Ich glaube nicht, dass irgendein Lehrer Buch führt, welcher Schüler bei welcher Schularbeit bei welchem Beispiel knapp dran war und eigentlich fast alles richtig hatte. Was bleibt, ist der Fetzen auf die Schularbeit. Und ehe du dich versiehst, sind alle vier Schularbeiten vorbei und davon vielleicht eine positiv. 

100-prozentige Genauigkeit
 
Zusammenfassend bemerkt: Gerade in der 5. Klasse ist die Kluft zwischen dem, was du in den wenigen drei Schulstunden lernst und dem, was du bei der Schularbeit können solltest – nämlich 100-prozentige Genauigkeit – absolut sichtbar. Vor allem zu Beginn werden die Themen wie Mengen, Intervalle, Zahlenmengen, Terme et cetera durchgepeitscht, dass bloß alles unterrichtet und "erledigt" wurde. Spätestens, wenn ich die aus dem Buch abgeschriebenen Merksätze im Heft finde, ist mir klar, dass so mancher Stoff nur "durchbesprochen" wurde. Davon bleibt aber nichts hängen! Es kann mir niemand erzählen, dass das vernetzte Denken und alle Verständnisfragen, die spätestens bei der Schularbeit fix auftauchen, auch nur halbwegs im Unterricht Platz hatten. 

Und ich gehe noch einen Schritt weiter: Früher wurde das abgeprüft, was im Unterricht gemacht wurde. (Kleine Ausnahmen gab es auch damals schon.) Aber heute ist es möglich, super-kreative Überraschungsbeispiele für die Schularbeit aus dem Hut zu zaubern, die nur ein Bruchteil der Klasse bewältigt. Alle anderen verlieren mit kleinsten Fehlern immer wieder ihre Punkte und unterschreiten die obligatorische Zwei-Drittel-Hürde im ersten Teil der Schularbeit. Endstation: Nicht genügend! (Rainer Saurugg, 31.10.2018)

Anmerkung: Dieses „Das haben wir nur durchbesprochen!“ höre ich des öfteren von meinen Schülern und es findet sich oft bei Lehrern, die mit PowerPoint imposante Beispiele an die Wand projizieren, die ihren Weg samt Erklärung jedoch nie in die Hefte finden. Und am Schluss kann mir so mancher Nachhilfeschüler ein paar Stunden später nicht wirklich sagen, um was es eigentlich gegangen ist. Dementsprechend ist es dann schwierig, zielgerichtet nachzuhelfen.

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