Wenn man sich die sozialpolitischen Vorhaben der Bundesregierung Kurz ansieht, dann sind die zwei größten realpolitischen Hürden das Europarecht und das Verfassungsrecht.

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In jeder liberalen Demokratie sind der Macht der Regierung Grenzen gesetzt. Zwar verfügt in einem parlamentarischen System wie Österreich die Regierung meist über eine Mehrheit in der Legislative, doch gibt es auch Institutionen und Akteure, die machtbeschränkend wirken können.

Zu diesen potenziell machtbeschränkenden Faktoren zählen in Österreich zum einen die parlamentarische Opposition, der Bundespräsident, Kammern und Gewerkschaften, die Länder, die Europäische Union, die Höchstgerichte aber natürlich auch die öffentliche Meinung.

Wenn man sich die sozialpolitischen Vorhaben der Bundesregierung Kurz ansieht, dann sind die zwei größten realpolitischen Hürden das Europarecht und das Verfassungsrecht. Die anvisierte Reform der Mindestsicherung wird nach der VfGH-Entscheidung zum niederösterreichischen Modell kaum in ihrer ursprünglichen Form durchführbar sein. Die Fusion der Sozialversicherungen ist in ihrer derzeitigen Fassung ebenfalls verfassungsrechtlich problematisch (meint nicht irgendwer, sondern der Verfassungsdienst des Justizministeriums). Und erst kürzlich hat die Europäische Kommission angekündigt, die geplante Indexierung der Familienbeihilfe per Vertragsverletzungsverfahren zu bekämpfen.

Solche Vertragsverletzungsverfahren sind im Grunde nicht ungewöhnlich. Die Kommission leitet als "Hüterin der Verträge" solche Verfahren ein, wenn ein Mitgliedsstaat mutmaßlich gegen EU-Recht verstößt. Im Jahr 2017 wurden allein 716 Vertragsverletzungsverfahren initiiert, davon 28 gegen Österreich.

Ein großer Teil davon ist der verspäteten Umsetzung von EU-Richtlinien geschuldet, und die meisten Vertragsverletzungsverfahren enden mit einer Verständigung zwischen Kommission und dem jeweiligen Mitgliedsstaat. Gibt es keine Einigung, landet die Angelegenheit allerdings vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) – und hier bleibt die Kommission in der überwiegenden Mehrheit der Fälle siegreich.

Im Zeitraum zwischen 2003 und 2017 entschied der EuGH in nur 129 von 1.294 Fällen (10 Prozent) im Sinne des jeweiligen Mitgliedsstaats. Zwar gab es 2013 einen Ausreißer nach oben (37 Prozent), jedoch betrug die Erfolgsquote der Kommission 2017 etwa nicht weniger als 100 Prozent.

Für Österreich fällt die Bilanz noch eindeutiger aus. Von 68 Verfahren zwischen 2003 und 2017 wurden 65 (95 Prozent) im Sinne der Kommission entschieden, nur dreimal gab der EuGH Österreich recht. Allerdings scheint man hierzulande jüngst Schlüsse daraus gezogen zu haben. Seit 2013 sind nur zwei Verfahren gegen Österreich beim EuGH gelandet, beide Male wurde im Sinne der Bundesregierung entschieden.

Gerade im Fall der Familienbeihilfe gibt es aber eine klare europäische Rechtslage, die eine Indexierung nach Lebenshaltungskosten in den Mitgliedsstaaten für europarechtlich unzulässig erklärt. Übrigens hat sich diesem Standpunkt bis vor kurzem auch die ÖVP noch angeschlossen, nämlich als im Vorfeld des Brexit-Referendums den Briten zeitlich befristete Sonderrechte zur Anpassung von Familienleistungen für EU-Bürger eingeräumt wurden – es war also klar, dass es dafür eine rechtliche Neuregelung braucht. Diese Option hätte später auch von anderen Mitgliedsstaaten in Anspruch genommen werden können, trat aber nach dem britischen Votum für einen EU-Austritt nie in Kraft. (Laurenz Ennser-Jedenastik, 30.10.2018)