Wien – "Das ist ein Fehler im System", sagt Martin Scherb tief überzeugt. Der Teamchef des Unter-16-Nationalteams arbeitet regelmäßig mit Talenten. Nicht alle meistern den Weg in den Profifußball. Dass manche aber am eigenen Geburtstag scheitern, wurmt den 49-Jährigen.

Was mysteriös klingt, hat einen Namen: relativer Alterseffekt (RAE). Er beruht darauf, dass Nachwuchsmannschaften (U6 bis U21) nach Stichtagen eingeteilt sind. Ein Beispiel: An der jüngst erfolgreich abgeschlossenen EM-Qualifikationskampagne der U21 durften ausschließlich Spieler teilnehmen, die am 1. Jänner 1996 oder später geboren wurden.. Diese Altersklassen dienen der Ausgeglichenheit der Bewerbe.

Ausgeglichen ist auch die Geburtenverteilung in Österreich. Pro Monat kommen annähernd gleich viele Babys, ergo Talente, auf die Welt. Das spiegelt sich jedoch nicht in den Nachwuchskadern wider. "Ein RAE liegt dann vor, wenn es infolge eines Stichtags zu einer Überrepräsentation von Sportlern kommt, die nahe dem Stichtag geboren sind, und sich diese Ungleichverteilung von der Geburtenverteilung der Normalbevölkerung unterscheidet", sagt Sportwissenschafter Christoph Gonaus vom IFFB (Interfakultärer Fachbereich) für Sport- und Bewegungswissenschaft der Universität Salzburg.

Der Weg ins Nationalteam ist schwer, für Spätgeborene und -entwickelte nochmals doppelt so mühsam.
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Spät geboren und spät entwickelt

Die STANDARD-Auswertung der 108 Nominierten der Nachwuchslehrgänge des Österreichischen Fußballbundes (ÖFB) bezeugt: Früh im Jahr geborene Kicker, also relativ Ältere, scheinen deutlich öfter im Kader auf als Spätgeborene. So sind die Jänner-Geborenen in der U16-Auswahl gegenüber der Verteilung in der Gesamtbevölkerung um 11,7 Prozentpunkte überrepräsentiert, in der U17-Auswahl sogar um 16,7 Prozentpunkte.

Das klingt im ersten Augenblick harmlos. Motto: Was sind schon höchstens elf Monate zwischen Jänner und Dezember? Gonaus: "Bei einem Zehnjährigen sind das immerhin zehn Prozent seines Lebens. Ein immenser Entwicklungs- und Erfahrungsrückstand."

Ein körperlicher Nachteil verschärft diesen womöglich. Denn neben dem chronologischen ist auch das biologische Alter von Bedeutung. Dieses gibt an, wie weit der Körper eines Burschen im Vergleich mit Altersgenossen entwickelt ist. Auch hier unterscheidet man zwischen Früh- (Akzelerierten) und Spätentwickelten (Retardierten). Beides ist im Alltag kein Grund zur Panik, weil völlig normal. Manche Kinder wachsen eben schneller als andere.

Sportwissenschafter Christoph Gonaus begleitet das österreichische U16-Nationalteam um Teamchef Martin Scherb.
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Teufelskreis von LAZ bis Akademien

Im Hochleistungssport beginnt aber damit ein Teufelskreis: Frühgeborene bzw. Frühentwickelte sind kräftiger und schneller. Sie stechen leichter heraus, werden eher als Talent wahrgenommen. Die Folge: Lob von allen Seiten, von Trainer und Familie. Das pusht das Selbstbewusstsein, erhöht die Leistung. Deshalb werden Landesverbandsausbildungszentren (LAZ, zuständig für die Zehn- bis 14-Jährigen) und später Akademien eher auf diese Kinder aufmerksam. "Der kleine Vorteil des frühen Geburtstags pusht sich so immer höher", sagt Gonaus.

Bis in die Akademien. Die STANDARD-Auswertung der 717 Spieler der höchsten Ausbildungszentren des Landes belegt in allen drei Altersklassen der ÖFB-Jugendligen (U15, U16 und U18) ein Plus an Frühgeborenen.

Insgesamt und in absoluten Zahlen wird das Plus noch offensichtlicher:

Willi Schuldes leitet seit 2015 die Rapid-Akademie und ist sich der Herausforderung bewusst: "Wir versuchen die Perspektive der Spieler zu bewerten und nicht das momentane Leistungsniveau. Das ist schwierig und gelingt nicht immer."

Aktueller vs. zukünftiger Erfolg

Ein Erwartungsdruck im Rücken erschwert die Angelegenheit. Der Rekordmeister ist, dazu reicht ein Blick zu den Erwachsenen, stets zum Siegen verdammt. Bei den Jüngeren sei das aber bis zu einem gewissen Alter kontraproduktiv. "Wenn die U15 Meister wird, ist das zwar schön. Letztlich geht es aber darum, die talentiertesten Spieler in die Kampfmannschaft zu bekommen. Die Öffentlichkeit nimmt jedoch nur die Ergebnisse wahr und keine Entwicklungen."

Wilhelm Schuldes leitet seit 2015 die Rapid-Akademie.
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Von den 24 Spielern der U15 der Hütteldorfer sind 13 im ersten Quartal (Jänner bis März) 2004 geboren. 30 der 69 untersuchten Jungkicker der Wiener erblickten im Jänner oder Februar das Licht der Welt. Das bildet den Höchstwert aller Akademien, ein Übergewicht an Frühgeborenen (erstes Halbjahr) haben alle gemein. Es ist ein Problem, das sich quer durch den Nachwuchsbereich zieht:

Um Spätgeborene zu identifizieren, reicht ein Blick in den Reisepass. Spätentwickler sind schwieriger auszumachen. Rapid veranlasst dafür Handwurzelröntgen der U13- und U14-Akteure. Es untersucht, inwiefern die Knochen im Vergleich zu einer Referenzgruppe Gleichaltriger ausgewachsen sind. Anhand der Wachstumsfugen lässt sich dabei das aktuelle Knochenalter bestimmen, bei Spätentwicklern verknöchern diese etwa später als bei Normal- oder Frühentwicklern.

Diese Methode ist zuverlässig, aber teuer, daher österreichweit nur bedingt einsetzbar. Vor allem rund um das entscheidende zehnte Lebensjahr. Hier findet im Fußball in Form der LAZs die erste Auswahl statt. Akademien bedienen sich später meist aus deren Talentepool, der aber bereits Spätgeborene und -entwickelte unterrepräsentiert. Untersuchungen von Gonaus und seinem Team zeigen, dass 65 Prozent der LAZ-U13-Spieler im ersten Halbjahr geboren sind, in der LAZ-U14 sind es 64 Prozent.

Technik vs. Muskelmasse

Um die Benachteiligten von Anfang an mitzunehmen, bräuchten die Mannschaften vor allem ein geschultes Trainerauge. Das sei das wichtigste Mittel, darüber sind sich alle Beteiligten einig. Wenn ein Knabe nur deswegen nicht mehr mithält, weil er körperlich noch nicht so weit ist, sollte das ein Coach erkennen. Auch abseits des Spielfelds: "Spätentwickler sind länger kindlicher, lachen – ohne Wertung – über andere Sachen", sagt Scherb. "Und dann gibt's 15-Jährige, da glaubst, mit denen kannst du schon über Gott und die Welt philosophieren."

Auf dem Rasen erleuchten "Magic Moments" den Spürsinn des St. Pöltners: "Oft bekommt ein Spieler in Bedrängnis den Ball, und du denkst dir: Dafür gibt's Lösung A oder B. Aber der dreht sich um und packt Lösung C aus, die man nicht erwartet!"

Martin Scherb ist es ein Anliegen, Nachwuchskickern eine faire Chance zu geben. "Warum sollen spätgeborene Spieler schlechter sein als frühgeborene? Das seh' ich nicht ein."
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Die Barcelona-Erfolgstruppe unter Pep Guardiola habe lauter solche Typen gehabt. Klein, wendig, mit eingebautem 360-Grad-Radar. In der Jugend können derartig Begabte ihre Fähigkeiten aufgrund ihrer physischen Defizite nur vereinzelt ausspielen. Hier dominieren die körperlich Stärkeren, die wiederum dazu neigen, sich zu sehr darauf zu verlassen. Im Erwachsenenalter ist dieser Vorteil futsch. Größe und Muskelmasse kann man aufholen, Technik nicht. Zudem profitieren Nachzügler davon, dass sie sich im Nachwuchs gegen härtere Konkurrenz durchsetzen mussten.

Der RAE fällt im Profibereich daher üblicherweise geringer aus, wie auch ein Blick auf die Abweichung der A-Mannschaften zur Gesamtbevölkerung zeigt. In den Bundesligakadern sind die Jänner-Geborenen nur mehr um 1,9 Prozentpunkte überrepräsentiert, in der Nationalmannschaft mit minus 0,6 Prozentpunkte sogar leicht unterrepräsentiert.

Die Arbeit an Lösungen

Um Spätgeborene und -entwickelte in der kritischen Phase zuvor jedoch nicht fallenzulassen, werden neben der Geduld der Trainer auch andere, durchaus bereits bekannte Lösungsansätze benötigt. Scherb und Gonaus initiierten im Juni einen Sichtungslehrgang ausschließlich für diese Gruppe. "Wir wollten ihnen zeigen, dass der ÖFB auf sie schaut. Im Idealfall sieht man Spieler, die man beim nächsten Regellehrgang miteinberufen kann", sagt der Trainer.

Gesagt, getan – drei Retardierte schafften im September den Sprung ins offizielle U16-Team gegen Zypern (2:3) und Deutschland (3:2). "Nicht weil sie so liebe Buben, sondern weil sie wirklich gute Spieler sind." Diese Nominierung wirkt sich wiederum positiv auf deren Stellenwert in den Akademien aus.

So erlaubt das ÖFB-Regulativ in der U16 und U18, je drei spätentwickelte Burschen älteren Jahrgangs mitspielen zu lassen. Zusätzlich können Akademien noch Trainingsgruppen nach dem biologischen Alter erstellen. Unter gleich entwickelten Kameraden tanken Retardierte Selbstvertrauen und können Führungsqualitäten aufbauen.

Der Weg ist das Ziel

Mit Vorsicht zu genießende Schätzungen sprechen davon, dass der RAE und seine Auswüchse 40 bis 50 Prozent der möglichen Talente vom Radar verschwinden lassen. "Es geht darum, möglichst viele Spieler möglichst lange zu fördern. Ebenso gilt es, für Talente, welche die Stufe der ersten (Früh-)Selektion nicht meistern, Möglichkeiten zu schaffen, später 'quer' ins Fördersystem einzusteigen", sagt Gonaus.

Scherb stimmt zu: "Man darf auch nicht blauäugig sein und kann nicht mit elf Spätgeborenen in der Jugend spielen. Es kommt auf die richtige Mischung an. Aber wenn jeder Jahrgang zukünftig zumindest zwei, drei feine spätentwickelte Fußballer nach oben bringt, sind wir auf dem richtigen Weg. Denn die machen oft den Unterschied aus." (Andreas Gstaltmeyr, Michael Matzenberger, 26.11.2018)