Die Pflicht zur Empathie: Roberto Minervini.

Viennale

Roberto Minervini ist der besondere Fall eines Außenbeobachters. Aus Italien zugewandert, vermag der Filmemacher mit besonderer Sensibilität auf die widersprüchlichen Realitäten der USA zu blicken. Mit seinem jüngsten Film What You Gonna Do When the World's On Fire behandelt er anhand mehrerer Personen aus der schwarzen Community von New Orleans ein Stück afroamerikanischen Lebens zwischen Musik, Gewaltprävention und den Bürden des Aufwachsens. Die Viennale widmet Minervinis Werk ein eigenes Programm. Beim Filmfestival von Venedig ergab sich Gelegenheit zu einem Gespräch, bei dem auch der wache politische Geist des Regisseurs zutage trat.

Von der Last eines Jugendlichen, in Amerika zu einem schwarzen Mann zu werden: Die beiden Brüder aus "What You Gonna Do When the World's On Fire".
Viennale

STANDARD: In The Other Side (2015) beschäftigten Sie sich mit prekär lebenden Weißen, Rechtsradikalen und Libertären. Nun wechseln Sie nochmals auf die "andere Seite" und porträtieren Schwarze. Wie verhalten sich die beiden Filme zueinander?

Minervini: Nichts passiert, wie Sie vermuten, durch Zufall! Bei The Other Side ging es mir darum zu zeigen, wie das eine Ende des Amerika der Gegenwart heute denkt. Ich wurde Zeuge von rechtsradikalem Extremismus und Alltagsrassismus. Nun dachte ich, dass der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um tiefer in diese Tradition der rassistischen Hassrede vorzudringen, indem ich eine Geschichte über das schwarze Amerika erzähle.

STANDARD: Lassen Sie mich einen Schritt zurückgehen: Was hat Sie zu diesem Dialog mit Amerika, speziell den Südstaaten, bewogen?

Minervini: Ich habe eine Amerikanerin geheiratet – und vor 23 Jahren habe ich beschlossen, in die USA zu ziehen. Damals hatte ich Bürojobs und arbeitete als Consultant. Ich verlor meinen Job mit 9/11, danach studierte ich mit dem Kompensationsgeld Media Studies. Mein Verhältnis zu Amerika war eine Hassliebe – die Liebe zu einer Frau, der Hass zu vielem, wofür die USA steht. Doch nachdem ich bleiben wollte, musste ich meine Vorurteile abbauen und beginnen zu verstehen.

STANDARD: Das schwarze Amerika, das Sie im Film zeigen, ist ein Ausschnitt der Community in New Orleans – wie fanden Sie Ihre Protagonisten?

Minervini: Der Fokus lag zuerst auf Folk- und Bluesmusik, weil sie, speziell vor den 1930er-Jahren, die Wurzeln der afroamerikanischen Kultur wiedergibt. Damals gab es keine Aufnahmen, Weiße konnten nicht einmal die Texte verstehen. Der Filmtitel What You Gonna Do When the World's On Fire stammt aus einem Song von Leadbelly, den er mit Anne Graham singt. So begann ich das Treme-Viertel zu erkunden, ich traf auf die Sängerin Judy Hill, die aus einer Familie von Musikern stammt, die auf eine lange Geschichte von Elend und Gefängnis zurückblickt. Die Black Panthers sind eine andere Geschichte – sie haben sich in den letzten dreißig Jahren geweigert, mit der etablierten Medienszene zu arbeiten. Ich hatte den Vorteil, völlig unabhängig zu sein.

STANDARD: Besonders bei den Panthers gewinnt man den Eindruck, dass sich seit den 1960er-Jahren nicht viel geändert hat, was deren Agenda betrifft.

Minervini: Die Botschaft ist in der Tat dieselbe geblieben, ihr Kampf hat nie aufgehört, die Revolution ist nicht eingetreten. Es sind natürlich viel weniger als damals, aber das liegt nicht so sehr daran, dass sie heute irrelevant sind, wie das Mainstreammedien gerne darstellen. Denn was vergessen wird, ist der Umstand, dass viele ihrer Anhänger im Gefängnis sind. Die Bürgerrechtlerin Angela Davis hat man bekanntlich fast hingerichtet. Von Trump wurden die Panthers in die Liste der zu beobachtenden Gruppen eingefügt, während manche Suprematisten daraus entfernt wurden. Er gewährt also jenen mehr Freiheit, die dezidiert Hate-Groups sind.

STANDARD: In der Kultur wird gerade viel von Diversität und Inklusion geredet. Nehmen das Ihre Protagonisten eigentlich ernst? Wie groß ist deren Bewusstsein für die kulturellen Vorkämpfer?

Minervini: Das Bewusstsein ist erstaunlich groß. Man spricht mit Begeisterung von den Helden, auch von denen ganz unten. Umgekehrt war auch die Herzlichkeit, die den Panthers in den Vierteln entgegenschlug, die wir besuchten, unglaublich. Die Hoffnung auf Schutz, ja, das Überleben wird vom vorherrschenden weißen System ignoriert. Mir ist freilich bewusst, dass mein Film zu einem weißen Publikum sprechen wird. Ich wollte nicht didaktisch sein. Mir ging es darum, dass meine Protagonisten eine Stimme bekommen. Viele Weiße sind ja in der Lage, selbst dialektisch über die Lage der Afroamerikaner zu denken. Doch es herrscht eine unglaubliche Selbstgefälligkeit, vor allem in diesen Komfortzonen des weißen liberalen Mittelstands – die Intoleranz ist in vielen gesellschaftlichen Bereichen schlimmer geworden.

STANDARD: Sie meinen, selbst in den urbanen Gegenden?

Minervini: Absolut. New York wird zwar als Himmel des progressiven Denkens betrachtet, in Wirklichkeit ist das jedoch die am stärksten segregierte Stadt der USA. Toleranz wird nur im Sinn von "tolerieren, dass sie da sind" ausgelegt – ohne richtige Integration. Alle Privatschulen in New York sind ausschließlich weiß. Es gibt eine einzige, die allein auf Leistung basiert, und da sind Weiße in der Minderheit. Das braucht doch eine Erklärung!

Trailer zu "What You Gonna Do When the World's On Fire?"
Screen International

STANDARD: Es gibt zwei jugendliche Brüder im Film, anhand derer Sie die Gefühlslage geradezu poetisch auf den Punkt bringen.

Minervini: Der Film entwickelt sich entlang der verwandten Gefühle Angst und Zorn. Es gibt ein Erbe von Angst und Zorn, das die ältere Generation an die jüngere weitergibt. Vor allem den älteren der Buben, Ronaldo, betrifft das, denn er steht an der Schwelle dazu, ein Mann zu werden. Er spürt die Last dessen, ein schwarzer Erwachsener zu werden. Das ist für mich eine entscheidende Stelle, denn hier tritt die institutionelle Gewalt zutage. Da geht es nicht so sehr darum, das Erziehungssystem zu hinterfragen. Es geht darum, Gehorsam zu lernen. Denn um zu überleben, muss ein schwarzer Mann immer noch lernen, zu gehorchen, besser als andere zu sein.

STANDARD: In der Art, wie Sie Ihre Schwarz-Weiß-Bilder komponieren, bekommt man den Eindruck, Sie wollten die Realität bewusst steigern, verdichten. Ein Wort dazu?

Minervini: Das ist ein wichtiger Punkt. Die Wahl von Schwarz-Weiß habe ich sehr früh getroffen, denn die Farbe hätte eine falsche Hierarchie eingeführt. Die Panthers hätten in ihren Uniformen gegen die Kostüme der Mardi Gras Indians aus den falschen Gründen verloren. Und was die Schönheit des Bildes anbelangt: Ich mache ein Kino der Beobachtung. Das heißt, es gibt klare Restriktionen. Ich filme nichts, das hässlich ist. Und nichts, was man als Reportage betrachten könnte. Nicht auf die Komposition zu achten wäre ein Verrat an der Würde, am Festlichen meiner Charaktere. Ich sehe das als meine Pflicht, ich verdanke den Figuren ja viel. (Dominik Kamalzadeh, 30.10.2018)