Jia Zhangke (48) studierte Malerei in Taiyuan und Film an der Filmakademie Peking. Er zählt mit Arbeiten wie "Unknown Pleasures" (2002), "Still Life" (2006) und "Mountains May Depart" (2015) zu den renommiertesten Regisseuren Chinas.

Foto: APA/AFP/LAURENT EMMANUEL

Qiao lebt in einer Minenstadt im Norden Chinas und liebt den Gangster Bin. So sehr, dass sie sogar fünf Jahre für ihn ins Gefängnis geht. Nach ihrer Entlassung macht sie sich auf die Suche nach dem Geliebten, doch dieser ist verschwunden – und die Zeiten haben sich geändert.

Jia Zhangkes "Asche ist reines Weiß" ("Jiang hu er nü").
Foto: Viennale

STANDARD: In einem frühen Moment des Films ruft der Vater der Protagonistin Qiao die Arbeiter zum Widerstand auf und benutzt dabei das Wort "Papiertiger" – ein Begriff, der noch aus den Zeiten der Kulturrevolution in China in Erinnerung ist.

Jia: Diese Szene am Anfang spielt im Jahr 2001. Das war ein wichtiges Jahr für China und den Transformationsprozess des Landes. Seitdem wurden viele staatliche Betriebe in Aktiengesellschaften umgewandelt. Das bedeutete eine Entwicklung von der Plan- zur Marktwirtschaft. Eine Konsequenz war, dass viele Arbeiter entlassen wurden. So wie Qiaos Vater. Er hat die Kulturrevolution noch selber erlebt, ihm sind damalige Begriffe wie "Papiertiger" noch vertraut. Sein Schicksal und jenes der Vätergeneration im Allgemeinen ist die Ursache dafür, dass die Qiao für sich eine andere Lebensweise wählt. Nach dem Abschied von ihrem Vater geht sie in die Disco, das ist eine vollkommen andere Welt.

STANDARD: Was für ein Verhältnis hat die offizielle chinesische Politik heute zur Vergangenheit – man sieht ja später auch einmal ein Mao-Bild an der Wand? Ist das etwas, über das gar nicht geredet wird, oder gibt es eine vorherrschende Geschichtsschreibung?

Jia: "Kulturrevolution" als Begriff ist allgemein bekannt in China, auch bei den Jüngeren. Aber sie wissen nicht viel an Details. Die offizielle Geschichtsschreibung hat sie als "Katastrophe der Nation" tituliert, daran gibt es keinen Zweifel. Aber ein offizielles Statement genügt nicht. Bis heute herrscht in der ganzen Gesellschaft ein Konsens vor, dass es keinerlei Legitimation für das gibt, was damals passiert ist – egal unter welcher Voraussetzung die Kulturrevolution in Gang gesetzt wurde. Es war absolut eine Katastrophe. Meiner Auffassung nach genügt es aber nicht, dass nur ein offizielles politisches Statement verkündet wird. Warum das eine Katastrophe war, ist noch nicht künstlerisch verarbeitet worden. Quiaos Vater ist selber ein Opfer der Kulturrevolution. Dass er für seine Anklage deren Terminologie benutzt, ist eine bittere Ironie.

Trailer zu "Asche ist reines Weiß" ("Jiang hu er nü").
Cine maldito

STANDARD: Wir sehen auch westliche Einflüsse, etwa bei den Musikstücken in der Disco. Wird das von den offiziellen Stellen toleriert, weil sie davon ausgehen, dass Jugendliche, die eine Disco besuchen, nicht rebellieren? Oder birgt das ein Widerstandspotenzial unterhalb staatlicher Normen?

Jia: Unmittelbar nach der Kulturrevolution kamen solche Popstars aus dem Westen eher durch private Kanäle nach China, damals wurde von offizieller Seite so etwas noch eingeschränkt. Aber seit 1978, als offiziell die Politik der Öffnung erklärt wurde, ist das kein Thema mehr. Es gibt keine Beschränkung mehr, auch nicht für US-Popmusik. Warum ich diese Disco-Szene in meine Geschichte eingebaut habe, ist die Tatsache, dass im Jahr 2001 diese Discos – mit großer Verspätung – auch in den kleineren Städten angekommen waren.

STANDARD: Qiao tritt als starke Frau auf. Ist das für das chinesische Kino eine eher untypische Figur oder können Sie da an eine Tradition anknüpfen?

Jia: Eine starke Frauenfigur ist für die chinesischen Zuschauer zwar vertraut, weil man im Alltag vielen starken Frauen begegnen kann. Aber zugleich auch fremd, weil solche Frauen noch viel zu selten im Kino zu sehen sind. Für mich ist diese starke Frau aber keine Heldin, weil sie in der langen Zeitspanne, die der Film umfasst (immerhin 17 Jahre), immer stärker wird – das ist ein Entwicklungsprozess. Sie will Liebe, aber sie hat auch ihre Prinzipien. (Frank Arnold, 31.10.2018)