Befürworter der Unabhängigkeit Neukaledoniens beim Wahlkampfabschluss in der Hauptstadt Nouméa.

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Sonne, Sandstrände, kristallklares Wasser – und La Marseillaise. Aus einem kleinen Lautsprecher dröhnt klirrend die französische Nationalhymne. Demonstration in der neukaledonischen Hauptstadt Nouméa: Mehrheitlich weiße Neukaledonier schwenken stolz die französische Flagge. Einige Demonstranten haben sich das Gesicht mit den Farben Blau, Weiß und Rot bemalt. "Vive la France!", rufen sie, es lebe Frankreich. Am Sonntag können die Neukaledonier abstimmen, ob sie sich von Paris trennen wollen. Für die Protestierenden ist der Fall klar: Nein! Dann versucht plötzlich ein Mitglied der indigenen Kanaken, den Aufmarsch zu stören. Bewaffnete Polizisten halten ihn zurück.

"Es ist kompliziert", fasst die australische Pazifikexpertin Denise Fisher die politische Lage im Nachbarland zusammen. Die ehemalige Botschafterin in Nouméa lehrt an der australischen Nationaluniversität ANU. "Kompliziert wegen der verschiedenen Wellen von Einwanderern, die im Verlauf der Jahrhunderte nach Neukaledonien kamen und unterschiedliche Interessen haben. Kompliziert aber auch wegen der spezifischen Rechte, die kein anderes französisches Territorium hat. So kann es etwa seine eigenen Gesetze erlassen", erklärt Fisher.

Frühere Sträflingskolonie

Seit Tausenden von Jahren hatten die Kanaken Inseln im Südwestpazifik besiedelt. 1853 begann die Kolonialisierung auf Anweisung von Napoleon. Später machte Paris aus Neukaledonien eine Sträflingskolonie. Seither sind die Neukaledonier abhängig von Frankreich wie ein Baby von der Mutterbrust: Teile der Wirtschaft sowie die öffentliche Verwaltung leben bis heute von Subventionen aus Paris. Allerdings tragen Tourismus und Bergbau verstärkt zum Einkommen bei: So liegen in den Gewässern von Neukaledonien einige der am besten erhaltenen Korallenriffe der Welt.

Im Boden lagern zwischen zehn und 25 Prozent der globalen Nickelvorkommen. Auch der Abbau dieses Metalls ist mehrheitlich in französischer Hand. Die Pariser Firma Eramet hält einen Anteil von 60 Prozent an der lokalen Société Le Nickel (SLN). Die Förderung und deren Folgen für die Umwelt sorgen regelmäßig für Proteste.

Blutige Geschichte

Neu ist der Ruf der Kanaken nach Unabhängigkeit nicht, er ist heute nur weniger blutig als früher. Zwischen 1878 und 1917 wurden Hunderte von Indigenen in Aufständen getötet. Die ethnischen Spannungen endeten 1988 zum letzten Mal in einem großen Blutbad. Bei einer Geiselnahme wurden 19 Indigene und sechs französische Sicherheitskräfte getötet.

Frankreich habe über Jahrzehnte "bewusst versucht, die indigene Bevölkerung zu verdrängen, zu marginalisieren", so Fisher. Das Ergebnis ist ein Gemisch von Einheimischen und Zugewanderten: die von Paris gesandten Administratoren, dann die europäischen Siedler, die seit Jahrzehnten in Neukaledonien leben. Dazu kommen Menschen aus anderen französischen Territorien sowie Vietnamesen, Chinesen und andere Asiaten. Die Rechnung Frankreichs ging trotzdem nicht auf. Die Kanaken stellen heute noch gut 40 Prozent der rund 270.000 Menschen zählenden Bevölkerung und sind in allen Bereichen der Wirtschaft und der Politik vertreten.

Ein Besuch des französischen Präsidenten Emmanuel Macron im Mai war Teil einer Charmeoffensive: Macron schlug die Schaffung einer Verteidigungsachse zwischen Frankreich, Indien und Australien vor. In diesem neuen System im indopazifischen Raum solle Neukaledonien eine wichtige Rolle spielen.

Großes Spektrum an Parteien

Niemand könne sagen, wie die Abstimmung am Sonntag ausgehen werde, meint Fisher. Zu groß sei das Spektrum von Parteien. Ganz links steht die kompromisslos auf Unabhängigkeit pochende Labourpartei. Ganz rechts stehen die Konservativen, die gegen die Unabhängigkeit mobilmachen. Dazwischen gibt es eine ganze Palette von kleineren Gruppierungen. Viele Separatistenparteien seien dank des Entgegenkommens Frankreichs aber nicht mehr so extrem wie früher, sagt Fisher.

Für Charles Wea, den Sprecher der Front de Libération Nationale Kanake et Socialiste (FLNKS), ist klar, dass nur eine Loslösung von Paris infrage kommt. Befürchtungen, ein solcher Schritt könnte in einem wirtschaftlichen Desaster oder sogar in Gewalt enden, weist er entschieden zurück. "Wir hatten fast 30 Jahre Zeit, uns darauf vorzubereiten. Wir Kanaken sind in wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht bereit."

Sollten die Neukaledonier am Sonntag Nein zur Unabhängigkeit sagen, werden sie im Jahr 2020 nochmals abstimmen können und im Jahr 2022 noch einmal. So sieht es der vor 30 Jahren mit Paris unterzeichnete Nouméa-Vertrag vor. Charles Wea jedenfalls will am Ende eine neue Gesellschaft aufbauen, ein neues Land und damit eine neue Beziehung zu Frankreich: "Den französischen Kolonialismus können wir nicht mehr akzeptieren." (Urs Wälterlin, 2.11.2018)