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Einige wenige NGOs sind noch auf dem Mittelmeer im Einsatz, etwa die spanische Organisation Proactiva Open Arms. Im Hintergrund ist das Beobachtungsschiff Mare Jonio der italienischen Hilfsorganisation Mediterranea zu sehen.

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Konrad Ott: "Letztlich kommt es moralisch gesehen auf die absoluten Zahlen an und nicht auf eine statistische Sterbewahrscheinlichkeit."

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Das Rettungsschiff Aquarius 2, das Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) vor zwei Wochen namentlich kritisiert hat, liegt im Hafen von Marseille an der Kette, nachdem Panama das Rettungsschiff aus seinem Schiffsregister gestrichen hat. Nun wird nach einem neuen Flaggenstaat gesucht. Dafür sind einige andere NGOs wie die spanische Organisation Proactiva Open Arms wieder im Einsatz, um Flüchtlinge im Mittelmeer zu retten.

Die Aktivitäten der Seenotretter wurden von zahlreichen europäischen Politikern kritisiert. Sie würden weitere Flüchtlinge anlocken, so der Vorwurf, oder gar gemeinsame Sache mit Schleppern machen. Die NGOs weisen all diese Vorwürfe zurück. Geht es aber nach dem deutschen Ethiker und Philosophen Konrad Ott, ist es moralisch in Ordnung, wenn die Hilfsorganisationen aufhören, Flüchtlinge zu retten, sofern dafür die Flüchtlingsroute stillgelegt werden kann.

STANDARD: In Ihrem Essay "Zuwanderung und Moral" von 2016 schreiben Sie, dass die Flüchtlingskrise ein "antagonistisches" Problem sei, an dem sich die Gemeinschaft zerstreiten könnte. Ist das mittlerweile eingetroffen?

Ott: Das ist eingetroffen, und zwar nicht nur auf nationaler Ebene, wo etwa in Deutschland rechtsnationalistische Parteien erstarkt sind, sondern auch auf europäischer Ebene. Die EU ist in dieser Frage tief gespalten und nicht in der Lage, Lösungen zu finden, etwa bei der Verteilung von Flüchtlingen und Migranten.

STANDARD: Wie kann man diese Spaltung beenden?

Ott: Das Problem ist, dass alle Seiten der festen Überzeugung sind, moralisch im Recht zu sein. Es geht also um einen Clash von moralischen Überzeugungen. Die einen denken, dass Flüchtlinge und Migranten sehr viele Rechte haben, und vertreten eine kosmopolitische Position. Jene, die im Mittelmeer Menschen vor dem Ertrinken retten, sind der Meinung, dass ihre Taten moralisch extrem verdienstvoll sind, und deshalb fühlen sie sich im Recht. Die andere Seite findet hingegen, dass das partikulare Gemeinwesen mit einem Zustrom von Flüchtlingen und Migranten nicht überfordert werden soll. Demnach gibt es ein Recht darauf, Grenzpolitik betreiben zu dürfen, also Menschen abweisen beziehungsweise zurückschicken zu dürfen. Und weil das kein normaler ökonomischer, sondern ein moralischer Konflikt ist, fällt uns eine Lösung so schwer. Denn jede Moral glaubt, die gute und richtige Moral zu sein.

STANDARD: Diese beiden Seiten haben Sie in Ihrem Essay als Gesinnungs- und Verantwortungsethik bezeichnet, eine von Max Weber stammende Unterscheidung. Beides ist unvereinbar, schreiben Sie: Die Gesinnungsethik lässt sich politisch nicht durchhalten, die Verantwortungsethik nicht moralisch durchhalten. Das bedeutet, man kann sich nicht einfach in der Mitte treffen?

Ott: Ich frage mich auch, was hier vernünftige, mittlere Positionen sein könnten. Einerseits sollte das Grundrecht auf Asyl gewahrt werden, andererseits sollte Europa nicht verpflichtet sein, all die Armutsmigranten vor allem aus Afrika und Südasien aufzunehmen. Das Problem ist, dass jede Position in der Mitte rasch entweder in Richtung offene Grenzen oder aber in Richtung Festung Europa rutscht.

STANDARD: Sie legen im Sinne der Verantwortungsethik Wert auf die Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und Migranten. Aber wie soll das in der Realität aussehen, wo sie im wahrsten Sinne des Wortes oft in einem Boot sitzen?

Ott: Der Flüchtling wird verfolgt, der Migrant ist auf der Suche nach einem besseren Leben, was grundsätzlich verständlich ist. Das macht einen moralischen Unterschied. Die Frage ist, wie wir in der Praxis unterscheiden, wenn alle einen Asylantrag stellen. Nehmen wir das Beispiel Mittelmeer. Da macht es zunächst keinen moralischen Unterschied, ob jemand in Seenot gerät oder sich selbst in Seenot bringt. Auch Letztere müssen gerettet werden, alles andere wäre zynisch. Ich setze dann voraus, dass die Menschen ein Recht haben, einen Asylantrag zu stellen. Ich setze auch voraus, dass wir die Frage nach einem sicheren Hafen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention auslegen und die Menschen nach Europa bringen müssen. Wir retten diese Menschen, wir bringen sie nach Europa, und wir geben ihnen die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen. Wir tun diesen Menschen also in drei Punkten etwas Gutes.

Und dann geht es um die Frage, wie man weiter verfahren soll. Hier sollten meiner Meinung nach die Anträge in Zentren zügig geprüft werden. Ich würde es für menschenrechtskonform halten, ersichtlich aussichtslose Anträge gar nicht erst ins Verfahren aufzunehmen, wenn die Menschen beispielsweise aus einem sicheren Drittland kommen. Dann wären sie sofort ausreisepflichtig. Dass es schwierig ist, diese Menschen zurück in die Heimat zu befördern, ist unbestritten. Entsprechende Abkommen zu verhandeln ist dann Aufgabe der Politik.

STANDARD: Was das Mittelmeer betrifft, stehen NGOs, die Flüchtlinge vor dem Ertrinken gerettet haben, in der Kritik. Zahlreiche europäische Politiker wie etwa der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) meinen, sie locken dadurch noch mehr Flüchtlinge an. Deshalb wird die Arbeit der NGOs schon seit längerem erschwert, Stichwort Verhaltenskodex oder Hafensperre. Wie verhält es sich hier mit der Moral?

Ott: Die Frage ist, gibt es einen Weg, diese Route auszutrocknen, also dass nicht wieder hunderttausende Menschen im Mittelmeer unterwegs sind und tausende ertrinken? Italiens Innenminister Matteo Salvini hat das versucht, indem er NGO-Schiffe beschlagnahmt ließ. Damit hat er aber eine rechtliche Grauzone betreten. Ob das mit europäischem Recht, mit der Genfer Flüchtlingskonvention im Einklang ist, darüber kann man trefflich streiten. Aber immerhin ist die Route dadurch unattraktiver gemacht worden.

STANDARD: In absoluten Zahlen ist die Zahl der Ankünfte über das Mittelmeer heuer zurückgegangen. Allerdings ist die Sterberate gestiegen. Auf Kosten von Menschenleben wird die Route also unattraktiv gemacht.

Ott: Ich mag dieses Bodycounting eigentlich nicht, aber ich denke, wir kommen hier nicht darum herum. Letztlich kommt es moralisch gesehen auf die absoluten Zahlen an und nicht auf eine statistische Sterbewahrscheinlichkeit.

STANDARD: Sie finden also, dass es moralisch vertretbar ist, NGOs daran zu hindern, Menschenleben zu retten? Dass also zunächst mehr Menschen sterben, damit mittelfristig eventuell weniger Menschen in See stechen und sich so in Gefahr begeben?

Ott: Es ist moralisch und rechtlich gesehen auf alle Fälle eine Grauzone. Aber eine wichtige Botschaft an die NGOs ist auch, dass sie selbst nicht moralisch überheblich werden sollen. Sie sollen sich als Teil eines überaus komplexen Geschehens sehen, und zwar gerade mit ihrer Moral. Denn wir wissen, dass die Moral anderer schamlos ausgenutzt werden kann. Wir wissen auch, da bin ich Hegelianer, dass das Moralische ins Unmoralische umschlagen kann. Es kann passieren, dass jene mit der felsenfesten moralischen Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen, in ein Geschehen hineingeraten, in dem sie sich nicht als Komplizen, aber unbeabsichtigt als Helfershelfer von dubiosen Gruppierungen wiederfinden, in diesem Fall Schlepper. Deshalb wird ihre Rolle dann auch suspekt.

Menschenleben zu retten ist an sich über jeden moralischen Zweifel erhaben, aber die Helfer befinden sich inmitten eines Geschehens, das sie selbst nicht in der Hand haben. Das hier ist eigentlich ein Lehrstück, um die Ambivalenz von Moral darzustellen. (Kim Son Hoang, 2.11.2018)