Nichts ist verjährt, keine Schuld ist gesühnt in der Vaterwelt: Büchnerpreisträger Winkler.

Foto: Fredrik von Erichsen

Josef Winklers Buch steht auf der Shortlist des Österreichischen Buchpreises 2018, der am 5. 11. in Wien vergeben wird.

Suhrkamp

Das wogende Korn im Kärntner Drautal wird aus zum Teil sehr bedenklichen Quellen gespeist. In den "Sautratten", einem Ackerboden unweit von Josef Winklers Heimatort Kamering, liegt ein Nazi-Verbrecher begraben.

Odilo Globocnik war im Mai 1945 seiner Identität überführt und am nämlichen Fleck verscharrt worden. Der Biss in die Zyankalikapsel hatte nicht vermocht, den sich seiner Mordtaten bei der "Aktion Reinhardt" Brüstenden endgültig zum Schweigen zu bringen. "Zwei Millionen ham'ma erledigt!": Dieser Hohnruf spukt fortan weiter durch den Kopf des jungen Josef ("Seppl"). Und der gibt sich noch in der Erinnerung als besonders widersetzliches Landkind zu erkennen.

Nichts ist verjährt, keine Schuld gesühnt in der carinthischen Vaterwelt des (wegen einer unverdienten Abreibung) aus der Nase blutenden Rebellen. Wie unter einem Zwang stehend, muss sich Josef Winkler als Bestandteil jener Kultur wiedererschaffen, die er sich zugleich litaneihaft vom Leib hält.

Winkler-Schriften gleichen von Anbeginn an, also etwa seit 1979, kuriosen Sprengsätzen. Ihre Beredtheit rührt her aus dem sicher verankerten Wissen um die eigene Ambivalenz. Nur wer liebt, was er – schon allein aus Gründen der Selbsterhaltung – zutiefst verabscheuen muss, vermag das alte Elend in immer wieder neue, betörende Satzkomplexe zu fassen.

Kreatürliche Notdurft

Lass dich heimgeigen, Vater, oder Den Tod ins Herz mir schreibe bildet die x-te Probe auf das nämliche Exempel. Winkler, der heutige Georg-Büchner-Preisträger, gibt sich in seinen Kindheitserinnerungen als Kollaborateur zu erkennen: als einer, der unbedingt zu denen hält, die ihm nichts Gutes tun. Er weiß um ihre unangetasteten Nazi-Wurzeln, und er empfindet Mitgefühl für ihre kreatürliche Notdurft.

Den "Tate" (Vater) spricht er an, wie um ihn posthum zur Rechenschaft zu ziehen. Die Jahre verrinnen in der lähmenden Wiederkehr derselben Gebräuche. Diese geben das zähe Gerüst ab für die Proben von Lieblosigkeit und Kadavergehorsam, die das Wesen einer unveränderlich repressiven Ordnung ausmachen. Geschafft haben es am ehesten diejenigen, die – wie die Großeltern – endlich aufgebahrt im offenen Sarg liegen, in der guten Stube. In den Mulden der von ihnen durchgesessenen Sofas hinterlassen sie das säuerliche Aroma von Urin.

Der "Tate" aber sitzt zu Gelegenheit der kirchlich gebotenen Feste mit den Onkeln am Küchentisch. Gemeinsam bereden diese Wohltäter am eigenen Milchvieh (im Geruch des Schnitzelfetts) die Abenteuer, die sie im Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Der eine trägt ein Hitler-Bärtchen, der andere gibt an, als SSler bloß einen Schreibtischposten besetzt gehalten zu haben.

Rotz und Wasser geheult

Der Krieg bildete einst die einzige Gelegenheit für sie, Erfahrungen zu sammeln: von der Welt etwas zu sehen und dabei auf verquere Art gesellig zu sein. Winklers etwas verspätet abgegebene Probe der sogenannten "Anti-Heimatliteratur" verrät die unverächtliche Meisterschaft der Routine. Wer durch dieses Meer von stark duftenden Feldblumen gewatet ist, wer durch diese Kärntner Miasmen von Viehblut torkelt und mit dem Erzähler obendrein Rotz und Wasser geheult hat, der sehnt sich recht heftig nach den Segnungen einer Kultur von öder Sachlichkeit, nach nüchtern urbaner Lebensart.

Man möchte dann keine frisch gezogenen Ferkelzähne mehr vom Boden aufschnappen, wie das arme, fehlgeleitete Hühner tun. Josef Winkler hält sich meisterlich verschanzt in seiner Kindheitslandschaft von Kamering. Doch dort, wo der Boden vergiftet ist, gedeiht eine Pracht, die bestenfalls archaisch anmutet. Der Autor, politisch ein hellwacher Zeitgenosse, hat bereits Auswege gewiesen: nach Rom, in die Landschaften der Delinquenz (von Jean Genet) oder noch weiter weg, in das ferne Indien.

Lass dich heimgeigen, Vater ... hat bereits seinen Weg ans Theater gefunden, ins Kasino der Wiener Burg. Man darf gespannt sein, ob dieser Engführung des Winkler'schen Lebensmythos jetzt auch noch heimische Buchpreis-Ehren beschieden sein werden. War Thomas Bernhard ein "Unterganghofer" (Sigrid Löffler), so wäre dem nicht weniger beredten "Herrgotts-Winkler" die Anerkennung im eigenen Land zu wünschen. Dann ist es mit Kamering und den giftgetränkten Sautratten auch wieder gut. (Ronald Pohl, 3.11.2018)