Hans Asperger an der Kinderklinik der Universität Wien in den 1930er Jahren. Er leitete über Jahrzehnte die heilpädagogische Abteilung.

Foto: [cc;3.0;by-sa]

Edith Sheffer: "Aspergers Kinder – Die Geburt des Autismus im 'Dritten Reich'". € 30,80 / 356 Seiten. Campus, Frankfurt a. M. 2018

Cover: Campus

Die Studie des Wiener Medizinhistorikers Herwig Czech sorgte im April dieses Jahres weltweit für Aufsehen: Czech wies in seiner Arbeit im Fachblatt "Molecular Autism" die Verstrickungen des Wiener Kinderarztes und Erstbeschreibers einer Autismusform Hans Asperger in die nationalsozialisitischen Euthanasieverbrechen nach. Er konnte zeigen, dass der berühmte Mediziner, der sich nach dem Krieg als Gegner des NS-Regimes inszenierte, in mehreren Fällen Kinder per Diagnose unmittelbar dem Vernichtungsprogramm auslieferte. Czech arbeitete auch auf, wie Asperger sich in größerem Rahmen freiwillig in die Legitimationsmaschine einreihte, die Kinder in unterschiedliche "Brauchbarkeitsstufen" einteilte und damit letztlich über Leben und Tod entschied.

Die US-amerikanische Historikerin Edith Sheffer legte kurz darauf ein Buch vor, das Aspergers Werdegang, wissenschaftliche Entwicklung und Karriere 1938-1945 detailliert nachzeichnet – nun ist es unter dem Titel "Aspergers Kinder" auch auf Deutsch erschienen. Die Autorin nimmt darin eine neue, nicht nur für medizinische Verbrechen aufschlussreiche Perspektive ein: Sie untersucht den NS-Staat als "Diagnoseregime", das von der Datensammlung über seine Bevölkerung und der Kategorisierung und "Sortierung" der Menschen regelrecht besessen war. Die "Aussortierung" als unerwünscht definierter Gruppen aus dem "Volkskörper" war für das Regime der logische nächste Schritt.

Lebensgefährliche Diagnosen

Die besondere Rolle, die Ärzten in diesem Diagnioseregime zukam, beleuchtet Scheffer beispielhaft an den Protagonisten der Wiener Kinderklinik der Universität Wien, deren heilpädagogische Abteilung Asperger ab 1935 leitete. Die einst wissenschaftlich weltweit angesehene Klinik verwandelte sich unter der Leitung des Antisemiten und überzeugten Nationalsozialisten Franz Hamburger in eine ideologisierte Anstalt, die ihre Arbeit mit Kindern ganz an deren "Nützlichkeit" ausrichtete.

Wem das Potenzial zugesprochen wurde, sich in die "Volksgemeinschaft" einzugliedern, sollte eine Chance gegeben werden. Wer den Kriterien der "Nützlichkeit" und "Bildungsfähigkeit" nicht entsprach, wurde in den Tod geschickt. Zur Kategorisierung der Kinder, die die Ärzte beurteilten, wurden nicht allein physiologische, sondern auch soziale Kriterien herangezogen: Wurde ein Kind als "unangepasst", "unerziehbar" oder "nicht arbeitsfähig" eingestuft, galt es als "nicht gemeinschaftsfähig". Ein solches Urteil konnte den Tod bedeuten, denn es führte in vielen Fällen zur Einlieferung in eine Tötungsanstalt, in Wien in die berüchtigte Anstalt "Am Spiegelgrund" auf der Wiener Baumgartner Höhe.

Teil des Apparats

Hans Asperger war selbst kein Mitglied der NSDAP, aber mit den Hauptprotagonisten der "Kindereuthanasie" bestens vernetzt und in ständigem Kontakt. Es gibt keinen Nachweis einer fanatischen Überzeugung des Mediziners für das NS-Euthanasieprogramm. Doch Asperger, der sich sein Leben lang als Katholik bezeichnete, war ein funktionierender Teil des Apparates, der die systematische Ermordung von Kindern am Spiegelgrund überhaupt ermöglichte.

Als Experte nahm er bereitwillig – und gut bezahlt – die Kategorisierung von Kindern im Kontext der Euthanasieverbrechen vor. Dabei agierte er flexibel, manchmal widersprüchlich und sprach in dutzenden Fällen lebensgefährliche Diagnosen aus. So besiegelte er etwa das Schicksal eines dreijährigen Mädchens im Jahr 1941 mit dem Befund: "Das Kind muss zuhause für die Mutter, die noch für fünf gesunde Kinder zu sorgen hat, eine untragbare Belastung darstellen. Dauernde Unterbringung auf dem 'Spiegelgrund' erscheint unbedingt nötig."

Zwei Monate später war das Mädchen tot – angeblich starb es an Lungenentzündung, der häufigsten offiziellen Todesursache am Spiegelgrund. Tatsächlich ließen die Pfleger zur Tötung ausgewählte Kinder unter Aufsicht von Ärzten verhungern oder verabreichten ihnen hochdosierte Barbiturate, die schwere Erkrankungen auslösten und zum Tod führten. Am Spiegelgrund, der zweitgrößten dieser Anstalten im Deutschen Reich, starben mindestens 789 Kinder und Jugendliche. Oftmals wurden auch medizinische Experimente an ihnen durchgeführt. Der Wiener Arzt und Spiegelgrund-Stationsleiter Heinrich Gross, der an den Morden beteiligt war, entnahm Hunderten Opfern ihre Gehirne und nutzte sie bis in die 1980er-Jahre für seine Forschung. Zur Mordanklage gegen Gross, der im Nachkriegsösterreich eine steile Karriere hinlegte, kam es trotz zahlreicher Hinweise auf seine Verbrechen erst 1997 – ohne Ergebnis: Gross wurde für "nicht vernehmungsfähig" erklärt, er starb 2005.

Einfluss der NS-Psychiatrie

Scheffer zeichnet in ihrem Buch das berufliche Umfeld Aspergers nach und rekonstruiert, wie die Wertvorstellungen der Nationalsozialisten seine Arbeit prägten. Sie stellt zentrale Aussagen seiner Forschung vor dem "Anschluss" Österreichs an NS-Deutschland 1938 denen späterer Arbeiten gegenüber und macht deutlich, wie stark die Grundsätze der NS-Psychiatrie Aspergers Vorstellung von der "autistischen Psychopathie" beeinflussten. Als er 1944 eine Form des Autismus beschrieb, die seinen Namen später weltbekannt machen sollte – das Asperger-Syndrom –, stützte er sich maßgeblich auf die Arbeiten zweier führender Köpfe des Kindereuthansieprogramms, nämlich Paul Schröder und Hans Heinze.

"Im Gegensatz zu Aspergers Nachkriegsimage war er keineswegs ein isolierter Forscher, der in der Abgeschiedenheit der Heilpädagogischen Abteilung gegen nationasozialistische Einflüsse gefeit war", schreibt Scheffer. "Er war ein aktives Mitglied der NS-Medizin und kam täglich mit dem Regime in Berührung."

Ein genaueres Lektorat beziehungsweise eine behutsamere Übersetzung hätte dem gut recherchierten und an sich sehr lesenswerten Buch nicht geschadet – neben etlichen Druckfehlern sind es vor allem unnötig reißerische und manchmal unsensible Formulierungen, die beim Lesen stören. Die belastete Redewendung "durch den Rost fallen" ausgerechnet im Zusammenhang mit NS-Verbrechen an Kindern unreflektiert zu verwenden, ist bedauerlich. Nichtsdestotrotz ist "Aspergers Kinder" ein wichtiger und gelungener Beitrag zur Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der österreichischen Medizingeschichte. (David Rennert, 5.11.2018)