In Bagdad herrscht Aufbruchsstimmung. Nach Jahren des Kriegs gegen den IS atmet die Stadt sichtlich durch. Die Jugend genießt es, dass das Nachtleben wieder an Fahrt gewinnt. Die Wasserpfeifencafés sind jeden Abend gefüllt. In einigen Stadtteilen gibt es sogar wieder Bars, die Alkohol ausschenken und in denen man Rockkonzerten lauschen und tanzen kann. "Wir hatten jahrelang keine Möglichkeit auszugehen, jetzt wollen wir unser Leben genießen!", erzählt mir ein junger Mann in einem der Cafés in der Omar-Bin-Yasir-Straße. Er und seine Freunde habe jüngst eine Jugendorganisation gegründet, die "Vereinigung der freien Jugend des Irak". Mit dieser wollen sie sich auch aktiv dafür einsetzen, dass man jene Freiheit leben kann, die man leben will. "Bagdad muss wieder ein Ort werden, in dem wir uns wohl fühlen, in dem auch junge Frauen frei leben können und in dem die Religiösen nicht mehr das ganze Leben bestimmen."

Der Blogger mit einigen Aktivisten der "Vereinigung der Freien Jugend des Irak" in Bagdad.
Foto: Thomas Schmidinger

Aufbruchsstimmung

Die Stadt hat vieles zu bieten und mittlerweile sieht man auch wieder Frauen in der Nacht auf der Straße, viele davon ohne Kopftuch. Einige zeigen sich sogar in den Cafés. Wer Bescheid weiß findet sogar versteckte Schwulenclubs. Ständig bedroht von gewaltsamen Übergriffen durch bigotte Milizen, versuchen diese nicht aufzufallen. Es gibt sie aber wieder.

Auch für Kulturinteressierte hat Bagdad durchaus etwas zu bieten. Im Gegensatz zu den irakischen Kleinstädten ist Bagdad eine wirkliche Weltstadt mit einem kulturellen Angebot, mit Kinos, Theatern und einer ganzen Straße, die für ihre Buchläden bekannt ist. Die nach dem klassischen arabischen Dichter Abu at-Tayyib al-Mutanabbi benannte Mutanabbi-Staße, die 2007 noch Tatort eines blutigen Anschlags wurde, ist wieder in vollem Betrieb. An Freitagen finden hier Gedichtrezitationen unter freiem Himmel statt, ansonsten werden Bücher aller Art verkauft. Von klassischer arabischer Lyrik über moderne Romane bis zu religiöser Literatur ist hier alles zu finden. 

Auf der Mutanabbi Straße ist das alte Leben zurückgekehrt und werden wieder Bücher verkauft.
Foto: Thomas Schmidinger
Foto: Thomas Schmidinger

Religiöse Minderheiten und Volksmobilisierungseinheiten

Die Spuren der Gewalt der letzten Jahre sind allerdings bei aller neuen Freiheiten immer noch allgegenwärtig. Viele Angehörige religiöser Minderheiten haben in den letzten Jahren versucht auszuwandern oder haben sich im sichereren Kurdistan niedergelassen. Nach den Juden droht Bagdad seit einigen Jahren auch seine Christen und Mandäer zu verlieren. Die Stadt ist weiterhin von Checkpoints durchzogen. Immer wieder stößt man dabei nicht nur auf die Polizei, sondern auch auf verschiedene Einheiten der Volksmobilisierungseinheiten, der Hashd ash-Shaabi, die 2014 überhastet gegründet wurden um den IS zu bekämpfen und von denen einige – allerdings keineswegs alle – heute als 5. Kolonne des Iran im Lande gelten. Viele der Hashd ash-Shaabi benutzen konfessionelle schiitische Symbole. Außerhalb Bagdads gibt es allerdings auch christliche, turkmenische und jesidische Hashd ash-Shaabi, die politisch wiederum sehr unterschiedlich orientiert sind. Sie alle entweder aufzulösen und zu gemeinsamen Polizei- oder Militäreinheiten zu verschmelzen, um wieder ein zentralisiertes Gewaltmonopol herzustellen, gehört zu den schwierigsten Aufgaben der nächsten Jahre.

Der Einfluss des Iran auf einen Teil der Milizen wird kaum versteckt.
Foto: Thomas Schmidinger

Wiederaufbau des IS

Auch in Mosul sind Checkpoints der Hashd ash-Shaabi präsent. In der überwiegend sunnitischen Stadt, wirken die schiitischen Flaggen der Milizen fehl am Platz. Manch Moslawi – wie die Bewohner der Stadt genannt werden – sieht in den Milizen deshalb weniger Befreier vor dem IS als Besatzer. Wiederaufbau ist in der Stadt wenig zu sehen und schon vor 2014 hatten Teile der konservativen Bevölkerung Mosuls Sympathien mit dem IS. Dieser rekrutiere mittlerweile wieder und baue erfolgreich seine Strukturen wieder auf, erzählen die Leute in Mosul. Die irakische Armee gräbt sich in der Nacht in ihren Stellungen ein und wagt es kaum noch in der Nacht durch die Stadt zu fahren, denn in der Nacht ist der IS wieder präsent.

Viele der Familien, die den IS 2014 unterstützt hatten, haben immer noch ihre Sympathien für die Terrororganisation. Hunderte jesidische Frauen, die 2014 versklavt wurden, sollen sich in Mosul und anderen konservativen sunnitisch-arabischen Städten bei IS-Familien aufhalten, die ihnen eine Rückkehr zu ihren Herkunftsfamilien mit massiven Drohungen verunmöglichen. Der irakische Staat ist zu schwach hier wirklich durchzugreifen. Unter Jesiden gibt es sogar Gerüchte, dass ihre Frauen und Mädchen in einige Golfstaaten weiterverkauft wurden und sich heute in Saudi-Arabien, Qatar oder den Vereinigten Arabischen Emiraten aufhalten sollen.

Von einem Wiederaufbau ist in Mosul wenig zu sehen: Bei der Befreiung der Stadt zerstörtes Spital.
Foto: Thomas Schmidinger

Wie man es auch dreht und wendet: Der IS ist als Parastaat besiegt und kontrolliert derzeit kein Territorium im Irak mehr, als Organisation und Ideologie ist er nicht verschwunden und wartet vielleicht nur auf die nächste Gelegenheit wieder zuzuschlagen. Immerhin war es der Vorgängerorganisation, dem "Islamischen Staat im Irak" schon 2006 gelungen einige Städte im Zentralirak zu übernehmen. Auch damals wurde der IS letztlich besiegt, allerding nur um acht Jahre später umso massiver wieder zurückzukommen.

Erleichtert wird der Wiederaufbau des IS auch durch die Tatsache, dass viele der lokalen Konflikte bislang nicht gelöst wurden. Die Zukunft der Provinz mit Mosul als Hauptstadt ist völlig ungewiss. Viele der Opfer des IS wollen nicht mehr mit den Sunniten in einer gemeinsamen Provinz leben. In der turkmenischen Stadt Tal Afar, die zwischen Mosul und Sinjar liegt und in der sunnitische Turkmenen 2014 mit dem IS die schiitischen Turkmenen vertrieben hatten, sind seit 2017 die schiitischen Turkmenen zurück. Die Sunniten wurden überwiegend von der Türkei mitgenommen und teilweise im türkisch besetzten syrischen Afrin wieder angesiedelt. Tal Afar selbst wird seither von schiitischen Volksmobilisierungseinheiten beherrscht.

In die weniger zerstörten Häuser Mosuls sind mittlerweile die meisten Bewohner Mosuls zurückgekehrt.
Foto: Thomas Schmidinger
Flaggen und Bilder von Märtyrern schiitischer Volksmobilisierungseinheiten in Tal Afar.
Thomas Schmidinger

Jesidische Flüchtlinge kehren kaum zurück

Die Opfer des IS leben einstweilen vielfach weiter in Flüchtlingslagern innerhalb des Irak. Während ein Teil der Christen aus der Niniveh-Ebene wieder in ihre Dörfer und Städte zurückgekehrt ist, leben die meisten Jesiden bis heute in Zelten in Flüchtlingslagern in der Provinz Dohuk. Nur im Norden des Sinjar-Gebirges sind einige Dörfer und die Stadt Sinuni teilweise wieder besiedelt. Insbesondere die Dörfer im Süden sind leer. Aufgrund des politischen Konflikts zwischen Erbil und Bagdad müssen jene, die zwischen Sinjar und Kurdistan hin- und herfahren, seit einem Jahr über Mosul fahren und gelangen nicht über die weit sicherere Strecke im Norden entlang der Grenze zu Syrien. Erbil und Bagdad halten diese gesperrt. So müssen die Jesiden durch jene Stadt fahren, von der sie wissen, dass viele jener, die sich 2014 abgeschlachtet und versklavt haben, noch immer dort leben.

Die Stadt Sinjar ist fast vier Jahre nach ihrer Befreiung vom IS ein Trümmerfeld.
Foto: Thomas Schmidinger

Zudem ist Sinjar selbst von einer Reihe politischer Konflikte erschüttert, da alle regionalen Akteure versuchen jesidische Milizen für sich zu missbrauchen und auf dem Rücken der Jesiden ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Seit dem Rückzug der Peshmerga der in Kurdistan dominanten Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) im Oktober 2017 wird das Gebiet v.a. von der irakischen Armee, aber auch von jesidischen Volksmobilisierungseinheiten, sowie von zwei weiteren jesidischen Milizen kontrolliert, von denen eine der PKK nahesteht und die andere eher einen gemäßigten jesidischen Nationalismus vertritt. Zuletzt mischte auch die Türkei immer stärker mit: mit Luftangriffen auf Führungsmitglieder und Stellungen einer Miliz, die mit der PKK verbündet ist, aber auch von der Regierung in Bagdad unterstützt wird. Das prominenteste Opfer stellte dabei mit Zekî Şengalî (Ismail Özden), einer der führenden Kommandanten der Widerstandseinheiten von Shingal (Yekîneyên Berxwedana Şingal, YBŞ), dar, der am 15. August 2018 auf der Rückkehr von einer Gedenkfeier am Ort des schlimmsten Massakers des IS in der Region von einer gezielten türkischen Rakete getroffen wurde.

Gedenken an den durch einen türkischen Angriff gezielt getöteten Zekî Sengalî in der Stadt Sinjar.
Foto: Thomas Schmidinger

Nachdem sich die Regierung in Bagdad und Barzanis Regierung in Kurdistan Ende Oktober auf eine Rückkehr der von Barzani eingesetzten Verwaltung der Stadt Sinjar geeingt hatten, verhinderten Anhänger der YBŞ und jesidischer Volksmobilisierungseinheiten die Rückkehr der Verwalter von Barzanis Demokratischer Partei Kurdistans (PDK). Letztlich ist weder die derzeit von Bagdad eingesetzte Verwaltung, noch die bis zum Rückzug der Peshmerga im Oktober 2017 präsenten Verwaltung der PDK demokratisch legitimiert.

Eine Rückkehr der PDK-Verwaltung wurde deshalb auch nicht nur von PKK-nahen Kräften kritisiert, sondern auch von Saib Khidir, der bei den Wahlen im Mai das für die Jesiden reservierte Minderheitenmandat im irakischen Parlament erringen konnte. Saib Khidir kommt zwar selbst nicht aus Sinjar, versucht aber als jemand, der aus keiner der starken lokalen Fraktionen kommt, immer wieder zu vermitteln. Sinjar bleibt damit extrem instabil. Nicht nur der Konflikt zwischen der Regierung in Bagdad und Barzanis PDK, sondern auch der zwischen PDK und PKK wird hier auf dem Rücken der lokalen jesidischen Bevölkerung ausgetragen.

Kommandatur der jesidischen Volksmobilisierungseinheiten in Sinjar.
Thomas Schmidinger

Widersprüche und Spaltungen

Die Aufbruchsstimmung in Bagdad und die Verzweiflung der Jesiden von Sinjar sind zwei Extreme zwischen denen sich die irakische Realität derzeit bewegt. Der derzeitige Frieden ist ein zartes und fragiles Pflänzchen, es kann wachsen aber auch noch immer einfach zertreten werden. Vieles wird dabei nicht nur von den irakischen Akteuren abhängen, sondern auch von den Hegemonialmächten in der Region. Bei einer Eskalation des saudisch-iranischen Konfliktes oder bei weiteren Vorstößen der Türkei gegen die Nachbarstaaten würde der Irak mit großer Wahrscheinlichkeit in den nächsten blutigen Konflikt hineingezogen werden. Die Folgen einer solchen Entwicklung wären nicht nur für die religiösen Minderheiten fatal. (Thomas Schmidinger, 12.11.2018)

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