Nur sehr wenige jüdische Tempel entgingen der Zerstörungswut der antisemitischen Wiener. Dem noch erhaltenen Stadttempel in der Seitenstettengasse kam die Nähe der angrenzenden Wohnhäuser zugute – die Flammen hätten eine Gefahr für die Anrainer bedeutet.

Foto: christian fischer

Wien – Am Freitag jähren sich zum 80. Mal die Novemberpogrome von 1938 gegen die jüdische Bevölkerung, die zahlreiche Menschen das Leben kosteten.

Heute oft immer noch mit dem verharmlosenden Nazi-Ausdruck "Reichskristallnacht" bezeichnet, bedeuteten die Pogrome für viele Historiker den Beginn der Schoah, der gezielten Auslöschung der jüdischen Bevölkerung. In Wien wird mit zahlreichen Veranstaltungen der damaligen Gräuel gedacht.

Verwüstungen

In Österreich wurden im Rahmen der Pogrome im November 1938 mindestens 30 Juden getötet, 7.800 verhaftet und aus Wien rund 4.000 sofort ins Konzentrationslager Dachau deportiert. Im gesamten von den Nazis regierten Gebiet wurden tausende Synagogen und Geschäfte niedergebrannt, nach offizieller damaliger Lesart 91 Personen getötet, tatsächlich starben aber während der Pogrome und in deren Folge weit mehr Menschen. Mehr als 20.000 Personen wurden verhaftet.

In Österreich wird rund um den 9. November mit zahlreichen Gedenkveranstaltungen den Novemberpogromen gedacht. Für den Dienstag (6. November) ist im Wiener Volkstheater eine szenische Lesung mit dem Titel "Gelebt, erlebt, überlebt – Die Geschichte der Wiener Familie Pressburger" zu sehen.

Am Mittwoch empfängt der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde, Oskar Deutsch, jene in Österreich geborene Holocaust-Überlebende aus Israel, die Bundeskanzler Sebastian Kurz und Bildungsminister Heinz Faßmann (beide ÖVP) bei deren Jerusalem-Besuch im Juni dieses Jahres zu einem Besuch nach Österreich eingeladen hatten.

Am Donnerstag (8. November) rufen die Israelitische Kultusgemeinde und die jüdische Jugend Wiens wie in den Jahren zuvor zum Gedenkmarsch "Light of Hope" auf. Start ist um 19.00 Uhr am Heldenplatz vor dem Eingang des "Haus der Geschichte" (Neue Burg). Die Abschlusszeremonie ist beim Mahnmal für die österreichischen jüdischen Opfer der Schoah am Judenplatz geplant, IKG-Präsident Deutsch wird dabei eine Rede halten. Von Regierungsseite wurde die Teilnahme von Innen-Staatssekretärin Karoline Edtstadler (ÖVP) avisiert. Bereits zuvor (18 Uhr) findet im ESRA – Psychosoziales Zentrum der IKG im 2. Wiener Gemeindebezirk eine Gedenkveranstaltung statt, bei der u.a. Bundespräsident Alexander Van der Bellen sprechen wird.

Gedenken am früheren Bahnhof

Ebenfalls an die Gräuel der Judenverfolgung erinnert wird bei einer Mahnwache beim Gedenkstein vor dem ehemaligen Aspangbahnhof im 3. Wiener Gemeindebezirk am Donnerstag ab 18 Uhr. Die "Initiative Aspangbahnhof" ruft wie schon im Vorjahr zum Gedenken der Deportationen auf, die von diesem Bahnhof aus stattfanden. Von 1939 bis 1942 wurden am ehemaligen Aspangbahnhof Zehntausende österreichische Juden in Viehwaggons gepfercht und in die Vernichtungslager transportiert.

Ebenfalls für Donnerstag ist am Campus der Universität Wien eine Gedenkfeier angesetzt.

Gedenkveranstaltungen in Wien

Am Freitag – dem eigentlichen Jahrestag der Novemberpogrome – beginnen die Gedenken um neun Uhr mit einer Kranzniederlegung durch Bundespräsident Van der Bellen beim Schoah-Mahnmal am Judenplatz. Danach (ab 9.30 Uhr) wechselt das Staatsoberhaupt ins Parlament, wo ebenfalls an die Opfer erinnert wird. Als weitere Teilnehmer bei der Veranstaltung im Hohen Haus sind unter anderem Bundeskanzler Kurz, Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka, Bildungsminister Faßmann (alle ÖVP) sowie die Zweite Nationalratspräsidentin Doris Bures (SPÖ) angekündigt. Auch die in Wien weilenden österreichischen Holocaust-Überlebenden werden im Parlament erwartet. Am Nachmittag empfängt Van der Bellen dann diese Opfer des NS-Regimes in der Präsidentschaftskanzlei.

Für den Abend des Freitag ist in der Wiener Ruprechtskirche ein Gedenk-Gottesdienst geplant.

Am Sonntag, den 11. November findet in Meidling ein Gedenkrundgang statt, der sich gezielt den in den Pogromnächten begangenen Verbrechen in diesem Bezirk widmet. Der von der "AK Gedenkrundgang veranstaltete Rundgang startet um 15 Uhr an der Ecke Meidlinger Hauptstraße/Sechtergasse und endet in der Franz-Emmerich-Gasse nahe der Schönbrunnerstraße.

Auf der Plattform Novembergedenken werden alle Veranstaltungen zum Gedenken an die Novemberpogrome gesammelt dargestellt.

Der Begriff "Pogrom" kommt aus dem Russischen und bedeutet "Verwüstung" und "Unwetter". Die NS-Propaganda versuchte, die Aktion im November 1938 als spontane Antwort der Bevölkerung auf den Tod des deutschen Diplomaten Ernst von Rath auszugeben. Dieser war am 7. November 1938 in Paris von einem 17-jährigen Juden namens Herschel Grynszpan niedergeschossen worden und starb später. Grynszpan hatte ursprünglich ein Attentat auf den deutschen Botschafter in Paris geplant, mit dem er gegen die Abschiebung tausender polnischstämmiger Juden protestieren wollte. Statt des Botschafters trafen seine Schüsse jedoch den jungen Botschaftssekretär Rath. Für die NS-Führung ein willkommener Anlass, den Antisemitismus der Wiener unter dem Vorwand des "Zorns der kochenden Volksseele" in offene Aggression umschalten zu lassen.

Hunderte Suizide

Die gezielten Ausschreitungen nach der Aktivierung der SS-Ortsgruppen beschränkten sich allerdings nicht auf eine Nacht, sondern dauerten mehrere Tage an. Allein im "Kreis Wien I" wurden 1.950 Wohnungen zwangsgeräumt und 42 Synagogen in Brand gesteckt und verwüstet. Hunderte Juden begingen Suizid.

Auch in den Bundesländern kam es zu zahlreichen Übergriffen. Die Synagogen in Eisenstadt, Berndorf, Vöslau, Baden, Klagenfurt, Linz und Graz fielen dem Pogrom zum Opfer. In Baden wurden alle Juden verhaftet, in St. Pölten 137, in ganz Salzburg 70, in Klagenfurt 40. Ein Zehntel der rund 650 bis dahin in Oberösterreich lebenden Juden wurde bereits am 8. November festgenommen.

Die Nationalsozialisten erlegten den Juden nach dem Pogrom eine "Sühneabgabe" von einer Milliarde Reichsmark auf. Sie wurde später noch um 25 Prozent erhöht und war binnen eines Jahres zu zahlen. Für die Schäden musste die jüdische Bevölkerung ebenfalls aufkommen. (red, APA, 5.11.2018)