Manchmal kann man den Ball ruhig flach halten. Und nix (fast nix) tun. Die Saison war lang genug. Irgendwann schlägt sich das ständige Übers-Wochenende-rasch-irgendwo-Hinfahren-und-rasch-einen-Lauf-Runterbrettern (und sei er noch so fein) dann nicht nur auf die Leistung (was wurscht ist), sondern auch auf den Spaß (was schlimm wäre) nieder. Irgendwann wollen Kopf und Beine eine Pause. Aber vor allem: Irgendwann sollte man etwas zurückgeben.

Und das, was man selbst bei 1.001 Läufen als selbstverständlich und gegeben annimmt, auch wertschätzen lernen: Ich weiß nicht, wie Sie es handhaben, aber ich versuche jenen Menschen, die mir bei Laufevents einen Becher hinhalten, zumindest ein Danke zuzurufen. Nicht weil ich so ein guter oder höflicher Mensch bin, sondern weil ohne all diese Helferlein kaum ein Event, kaum ein Rennen stattfinden könnte – egal ob diese Leute dafür bezahlt werden oder Volunteers sind.

Foto: Thomas Rottenberg

Darum war ich richtig froh, als Ed Kramer vergangene Woche auf Facebook schrieb, dass er Leute suche, die am Samstag bei "seiner" Labe aushelfen wollten. Er würde, schrieb Ed, gemeinsam mit seiner Frau Elisa so wie schon im Vorjahr an der "Wien rundumadum"-Strecke eine Labestation einrichten.

Und diejenigen, die da zwischen 10 und 16 Uhr beim Shop vorbeikommen würden, wären mit ziemlicher Sicherheit froh, hier ein paar Minuten durchatmen und sich stärken zu können. Im Vorjahr, schrieb Ed, habe er diesen Eindruck gewonnen. Zu verdienen, das brauchte er nicht zu schreiben, das wusste ich auch so, gebe es nix. Karmapunkte halt. Ich überlegte nicht lange: "I am in."

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Falls Sie jetzt Bahnhof verstanden haben: "Wien rundumadum" ist ein Laufevent, der am vergangenen Samstag zum mittlerweile fünften Mal stattfand. Ein Lauf, der genau das ist und kann, was in seinem Namen steht: Es gilt, die Stadt einmal zu umrunden. Macht ziemlich genau 130 Kilometer. Und zwar zu Fuß. Es gibt in diversen Foren alle Jahre wieder Menschen, die fragen, wie das zu bewerkstelligen sei – und entweder fassungslos sind oder an einen Scherz glauben, wenn als Antwort kommt: "Seriously: zu Fuß."

Die ganz harten Kerle und Kerlinnen laufen das allein und in einem Stück. Das wäre die "Ganze G'schicht". Für die weniger Durchgeknallten gibt es die "Halbe G'schicht" (61 Kilometer) und die "Kurze G'schicht" (42 Kilometer). Neu und heuer erstmals im Programm: die "Dreiviertel G'schicht" (88 Kilometer). Wer will, kann die volle und die halbe Distanz auch als Staffel laufen.

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"Wien rundumadum" gibt es nicht nur als Lauf, sondern auch als Wanderung: 2005 wurde der Weg zur Feier des 100-jährigen Bestehens des Grüngürtels um die Stadt ausgeschildert. Die Idee war, dass man die Stadt im Verlauf einer Wandersaison auf insgesamt 24 Etappen einmal umrundet. Dass irgendwer auf die Idee kommen könnte, das laufend und innerhalb von 24 Stunden zu erledigen, war primär wohl nicht vorgesehen – aber doch irgendwie naheliegend. Zumindest nachdem es irgendwer zum ersten Mal ausgesprochen und dann auch umgesetzt hatte. Und auch wenn ich mir selbst derzeit nicht einmal die "Kurze G'schicht" zutrauen würde, gibt es gar nicht so wenige Menschen, die sich das nicht nur zutrauen, sondern auch schaffen. Heuer kamen rund 65 Läuferinnen und Läufer durch – der schnellste in elf Stunden und 55 Minuten, der letzte nach 24 Stunden und 44 Minuten. Und ich bin mir nicht sicher, welche dieser beiden Zeiten mir mehr Respekt abnötigt.

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Ed und Elisa Kramers Laden liegt ziemlich genau an der Strecke. Die beiden betreiben in Wien-Liesing seit etwas mehr als zwei Jahren einen Laufshop, der sich genau auf jene Klientel spezialisiert, die wahnsinnig genug ist, sich so etwas anzutun: Traildogrunning heißt er – und ist einer der vier Wiener Laufläden, in denen ich sicher bin, von Leuten beraten zu werden, denen es tatsächlich wichtig ist, dass der Kunde oder die Kundin mit dem individuell richtigen Schuh und dem noch richtigeren Gefühl wieder geht. Nein, reich wird man mit diesem Zugang zum Geschäft vermutlich nicht. Aber Leuten, die am Stadtrand einen solchen Laden aufmachen, geht es vermutlich um andere Dinge.

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"Ziemlich genau an der Strecke" bedeutet allerdings, dass die Laufstrecke ein paar Meter am Shop vorbeiführt: Die Läufer kommen die Liesing entlang und müssten hier, kurz nach dem Aquädukt, etwa bei Kilometer 54 eigentlich rechts über eine kleine Holzbrücke auf die andere Flussseite wechseln.

Der Laden der Kramers liegt aber auf der anderen Straßenseite. Und obwohl in den Streckenunterlagen und im Racebriefing auf die semioffizielle Labe verwiesen wird, sind die meisten Läuferinnen und Läufer nach 54 Kilometern dermaßen in ihrem Flow, dass sie schlicht und einfach nicht daran denken, beim Herbert-Mayr-Park kurz über die Breitenfurter Straße zu laufen, wenn sie nicht von einem Schild und einer Beachflag dazu eingeladen werden.

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Und sogar dann rennen manche vorbei – obwohl sie dann, wenn man ihnen nachruft oder -pfeift, richtig happy sind, hier eine warme Stärkung zu bekommen: "Ich bin seit einer halben Ewigkeit allein unterwegs", sagte nicht nur einer. Da dann kurz abgelenkt, gefragt, wie es einem so geht, und aufgepäppelt zu werden tut gut. Und auf ein paar Minuten mehr oder weniger kommt es den meisten bei diesem Lauf nicht an: "'Wien rundumadum' ist kein Wettrennen, sondern ein Erlebnislauf", lautet der erste Satz im Streckenheft, das allen in die Hand gedrückt wird. Und auch wenn natürlich jeder und jede versucht, das Rennen so gut und rasch wie möglich zu laufen, ist das allen bewusst.

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Die Labe vor unserer war beim Gutenbachtor. Also an der Rückseite des Lainzer Tiergartens. Die Leute dort hatten unter anderem Schwedenbomben und Marzipanriegel bereitgelegt. Außerdem wechselten dort viele Läuferinnen und Läufer Schuhe und Gewand. Bei uns gab es eben Gemüsesuppe. "Ist die vegan?", fragte einer. "Ja, sogar die Backerbsen stammen aus Freilandhaltung und haben nie einen Käfig von innen gesehen."

Den meisten war aber ziemlich wurscht, was wir da in die Suppe reingegeben hatten: Hauptsache heiß, flüssig und salzig. Nach 54 Kilometern ist man nicht wählerisch. Schon gar nicht, wenn noch 75 Kilometer vor einem liegen.

Foto: Thomas Rottenberg

Eilig hatte es keiner: Die meisten gönnten sich eine zweite Portion – und winkten denen zu oder nach, die sich nicht dazu entschlossen, zu uns auf die andere Straßenseite zu wechseln. Ein paar Läufer hatten sich den Laden auch als "Bagdrop"-Zone ausgesucht, hatten also schon an einem der Tage zuvor einen Sack mit Wechselgewand und vor allem -schuhen deponiert. Eigentlich ziemlich schlau: Hatte die Route auf den ersten 40 oder 45 Kilometern über Bisam- und Kahlenberg durch den Wienerwald rund um Lainz doch etliche Wald- und Trailpassagen gehabt, standen nun eher Mühen der Ebene an: die Liesing entlang zu den Wienerberggründen, durch Favoriten nach Simmering und über das Kraftwerk Freudenau auf die Insel und in die Lobau. Da wäre ich auch von den Trailschuhen auf leichtere Schuhe umgestiegen.

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Andere wiederum tauschten hier nicht die Schuhe, sondern den Läufer oder die Läuferin aus: Bei "Wien rundumadum" gibt es ja auch den Staffelbewerb. Wobei die Staffel jede Größe zwischen zwei und sechs Läuferinnen oder Läufern haben darf und es jedem Team freigestellt ist zu entscheiden, wo, wann und wie oft gewechselt wird. Vorgegeben war nur, dass Startnummernband, Notfallhandy und GPS-Tracker weitergegeben werden – und also de facto der Rucksack gewechselt wird.

Foto: Thomas Rottenberg

Stella hatte bei uns rund eine halbe Stunde auf Sandra gewartet – und sich angesichts der "Ganze G'schicht"-Läufer wohl ein bisserl "klein" gefühlt: Sie hatte ja jetzt "nur" 22 Kilometer auf dem Plan. Ich kenne Stella: Sie ist Marathon- und Ironman-Finisherin – also alles andere als eine Komfortzonen- oder Schönwetterathletin.

Aber ich kenne auch das Gefühl, das einen beschleicht, wenn man zwischen Leuten sitzt, die schon 54 Kilometer auf dem Tacho haben und da jetzt gleich noch einmal das Eineinhalbfache dranhängen werden – und darüber so reden, als würden sie nur rasch rüber zum Bäcker und wieder zurück laufen.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich hatte dieses "Was bin ich doch für ein Würstchen"-Gefühl nämlich auch – obwohl kein Einziger hier auch nur eine Viertelsekunde diese bei Normalo-Events von Durchschnittsläufern mitunter demonstrativ zur Schau gestellte "Was bist du denn für ein Lulu"-Attitüde gezeigt hatte. Wer wirklich cool ist, hat so was nicht nötig. Und jemand, der sich über 61, 88 oder 130 Kilometer traut, ist cool oder verrückt oder beides. Aber ziemlich sicher kein Angeber: Dafür hat man bei so einer Veranstaltung schlicht und einfach zu wenig Publikum.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber natürlich kam dann irgendwann die unvermeidliche Frage, ob ich nächstes Jahr mitlaufen wolle. Eh nicht die volle, sondern zum Eingewöhnen eher "nur" die halbe Strecke. Natürlich juckte es mich in den Füßen. Natürlich wäre das toll. Spannend. Lustig.

Aber da ist auch etwas anderes: Irgendwann, als wir merkten, dass für viele Läuferinnen und Läufer unsere Beachflag doch recht unvermittelt kam, pickte ich ein "Vorwarnschild" an einen Baum: "Suppe 50 Meter". Am Sonntag schrieb dann eine Läuferin, dass "das wohl meine schnellsten 50 Meter an diesem Tag waren".

Da wusste ich, dass wir etwas richtig gemacht hatten – einfach weil wir da waren. Das ist viel wert. Mir zumindest: Manchmal kann man den Ball auch flach halten. (Thomas Rottenberg, 7.11.2018)


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