"Um sich vor der Rückwärtsgewandtheit der Populisten abzugrenzen braucht es eine Vision. Also die Vorstellung einer Zukunft, für die es sich zu kämpfen lohnt": Svenja Flaßpöhler.

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Ignorieren, bekämpfen, verstehen? Über den richtigen Umgang mit Rechts lautet der Titel der Eröffnungsrede, mit der die Philosophin, Journalistin und Autorin Svenja Flaßpöhler Mittwochabend die internationale Buchmesse Buch Wien (7. bis 11. November) eröffnete. Die in Münster geborene 43-jährige Chefredakteurin des Philosophie-Magazins, die Germanistik, Philosophie und Sport studierte, hat sich schon in der Vergangenheit nicht gescheut, gesellschaftlich "heiße" Themen wie Sterbehilfe oder die #MeToo-Debatte aufzunehmen – und durch differenzierte Sichtweisen zu ergänzen. In ihrer Streitschrift Die potente Frau, die ihr Zustimmung und wütende Kritik einbrachte, kritisierte sie heuer den "Hashtag-Feminismus" als eine zu sehr pauschalisierende Verurteilung von Männern und forderte stattdessen, Frauen sollten ihren Opferstatus aufgeben und für ihre Autonomie und mehr weibliches Selbstbewusstsein einstehen.

STANDARD: Heuer war der Umgang mit den Neuen Rechten und ihren Verlagen eines der Topthemen der Frankfurter Buchmesse. Diese sich jährlich wiederholende Debatte ist – nicht nur im Literaturbetrieb – auch Ausdruck einer gewissen Ratlosigkeit. Der Titel Ihrer Buch-Wien-Eröffnungsrede skizziert drei Strategien: Ignorieren, Bekämpfen, Verstehen. Welche präferieren Sie?

Flaßpöhler: Das hängt zunächst einmal davon ab, was mit "rechts" gemeint ist. Wenn ein Mensch, der rechts wählt oder sich selbst als rechtskonservativ beschreibt, einen klaren Willen zum Diskurs besitzt, wenn er sich auseinandersetzen und Demokratie gestalten will, dann wäre es aus meiner Sicht absolut falsch, diesen Menschen zu ignorieren, zu diffamieren, auszuschließen oder niederzubrüllen. In einer Demokratie müssen wir uns der Position eines anderen erst einmal verstehend öffnen, wir müssen ihm zuhören, die Auseinandersetzung wagen.

STANDARD: Sie sagen "wagen" – warum?

Flaßpöhler: Ich sage "wagen", weil es sein kann, dass ich in einer solchen Diskussion erkenne: Der oder die andere sieht was, das ich noch nicht gesehen habe. Und ja, es ist natürlich ein Wagnis, nach den Vorkommnissen in Chemnitz und den Erfolgen der AfD bei den Landtagswahlen den Diskursraum zu öffnen. So ist Jürgen Habermas zum Beispiel klar der Auffassung, dass man um die "besorgten" Bürger nicht "herumtanzen" darf. Stattdessen solle man sie "kurz und trocken als das abtun, was sie sind – der Saatboden für einen neuen Faschismus", so Habermas 2016 in den Blättern für deutsche und internationale Politik. Seiner deliberativen Demokratietheorie zufolge darf nur das zum Diskurs zugelassen werden, was vernünftig ist, um den Anfängen zu wehren. Aber was genau ist vernünftig? Müsste man nicht auch darüber streiten? Und ist eine Demokratie, die sich immunisieren will, noch eine Demokratie? Darüber hinaus schürt natürlich eine solche Rhetorik – AfD-Wähler gelte es "abzutun" – nur umso mehr den Elitenhass. Und doch muss man natürlich eine Grenze ziehen ...

STANDARD: Nämlich welche?

Flaßpöhler: Eine, die aus dem Begriff des Verstehens selbst folgt. Verstehen heißt ja nicht automatisch nachvollziehen, Recht geben, gar entschuldigen. So kann mir der hermeneutische Prozess auch die ganze Härte der anderen Position offenbaren. Denken Sie an Hannah Arendt, die das Handeln von Adolf Eichmann verstehen wollte und mit dem "banalen Bösen" auf den Begriff brachte – und die die Todesstrafe gegen Eichmann klar befürwortete. Entsprechend ist auch für mich klar: Den Faschismus muss man bekämpfen, und zwar in aller Entschiedenheit. Denn ein Faschist hat kein Interesse am Diskurs, sondern nur an Macht und Zerstörung.

STANDARD: Soeben hat die Spiegel-Kolumnistin Margarete Stokowski eine Lesung in einer Münchner Buchhandlung abgesagt, weil dort auch Bücher aus rechten Verlagen angeboten werden.

Flaßpöhler: Das ist ein schönes Beispiel für das Problem, das ich hier zu benennen versuche. Darf man dann auch keinen Carl Schmitt mehr verkaufen? Und wie kann man eigentlich "gegen rechts" sein, wenn man das rechte Denken überhaupt nicht kennt?

STANDARD: In der Potenten Frau konstatieren sie, die Gegenwartsdiagnose des Hashtag-Feminismus – hier die hilflosen Frauen, dort die bösen Männer – sei vereinfachend und sitze alten Rollenbildern auf. Ließe sich nicht Ähnliches insgesamt vom gegenwärtigen politischen Diskurs behaupten, der, gelinde gesagt, unterkomplex geführt wird?

Flaßpöhler: Mich besorgt, dass wir gegenwärtig wieder extrem in politischen Lagern und Weltbildern denken. Die Grenzen der eigenen Ideologie werden streng überwacht. Die Differenzierung hat es in einer solchen geistigen Enge schwer. Entweder du bist für uns oder gegen uns: Das ist die Logik, die heute vorherrscht, auch in meinem Umfeld. Da macht man sich schnell, wenn man selber denkt, anstatt sich blindlings Hashtag-Bewegungen wie #MeToo anzuschließen, zu einer Verräterin oder einem Verräter.

STANDARD: Haben Sie auch ein persönliches Beispiel jenseits von #MeToo?

Flaßpöhler: Sicher. Um hier nur eines zu nennen: Ich fand es aus verschiedenen Gründen falsch, dass sich 2017 die Sachbuchbestenliste von NDR und Süddeutscher Zeitung in Windeseile auflöste, nachdem ein Spiegel-Redakteur das Buch Finis Germania von Rolf Peter Sieferle dort platziert hatte. Die Jury hatte das Buch zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal richtig gelesen. Allein dass es im neurechten Antaios-Verlag erschienen war, ließ gestandene Journalisten regelrecht in Panik verfallen. Als ich diese Reaktion hinterfragte, waren Menschen in meinem Umfeld der Auffassung, dass ich selbst mit Sieferle und AfD-Positionen sympathisiere. Dieser Automatismus ist gefährlich, weil er die offene Auseinandersetzung im Keim erstickt und den Spalt in der Gesellschaft maßgeblich mitverursacht.

STANDARD: Und Wasser auf die Mühlen derer ist, die den Satz "Das wird man ja noch mal sagen dürfen" verwenden oder gar von "Zensur" und "Gesinnungsdiktatur" sprechen?

Flaßpöhler: Richtig. Umso wichtiger ist zu betonen: Nein, wir leben in keiner Diktatur. Wir werden auch nicht zensiert. Wir dürfen alles sagen, wenn es auf dem Boden der Verfassung ist. Trotzdem kann man ein Diskursklima beklagen, in dem Misstrauen und nicht Offenheit tonangebend ist. Was im Übrigen auch zu intellektueller Unterforderung führt. Nichts ist langweiliger, als sich mit einem Menschen zu unterhalten, dessen Meinung man schon vorher kennt und der sich aus der Schablone seines Denkens nicht hinausbewegt.

STANDARD: Besonders deutlich werden politische Bruchlinien beim Thema Immigration. Sie zeigen sich auch nach der Gruppenvergewaltigung einer 18-Jährigen in Freiburg durch mutmaßlich syrische Täter. Der parteilose Oberbürgermeister der Stadt, Martin Horn, sieht sich einem Shitstorm ausgesetzt, weil er sofort vor der politisch-rechten Instrumentalisierung warnte. Dieser Antirassismus führe im Extremfall zu Täterschutz, findet etwa Inge Bell von der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes ...

Flaßpöhler: Natürlich darf man nicht instrumentalisieren, in solchen Fällen schon gar nicht. Es geht darum, sich sachbezogen auseinanderzusetzen und erst einmal alle Erkenntnisse und Argumente zu hören. Und wir müssen wieder lernen zu diskutieren über Themen, die im Kern hochphilosophisch sind: über Gemeinschaft und Gesellschaft, über Partikularismus und Universalismus, über Kultur und Zivilität, sicherlich auch über kulturelle Identität. Wir leben in einer hochkomplexen Welt, die uns herausfordert, uns unbequemen Fragen und Problemen wirklich zu stellen. Auf "Freiburg" bezogen: Kein reflexhafter Täterschutz, aber auch keine rassistischen Ressentiments führen weiter. Das sture und dumme Beharren auf eigenen Gewissheiten kostet uns nur Zeit. Wertvolle Zeit. Wir sollten sie lieber nutzen, um zu höheren Einsichten zu gelangen, und das geht nun einmal nicht ohne Dialektik. Wusste schon Hegel.

STANDARD: Wie sehen Sie die Rolle der Medien in diesem Zusammenhang? Oft schlägt die grelle Geschichte die komplexe Analyse. Zuspitzung verhilft in der Aufmerksamkeitsökonomie zur Quote.

Flaßpöhler: Die Aufmerksamkeitsdynamik führt dazu, dass über Gruppenvergewaltigungen oder #MeToo-Aussagen, in denen es um mächtige Männer und Hotelzimmer geht, natürlich mehr berichtet wird als über massive Steuerhinterziehung oder Probleme der sozialen Gerechtigkeit. Diese Dynamiken gilt es zu durchschauen, und das rate ich auch jenen, die #MeToo vorbehaltlos unterstützen. Wenn die Zeitschrift "Focus" Frauen auffordert, doch mal ein bisschen aus dem Nähkästchen zu plaudern, dann hat das mit einem feministischen Grundimpuls ganz offensichtlich wenig zu tun. Die Verantwortung der Medien in dieser explosiven Zeit ist insofern enorm.

STANDARD: Die gesellschaftlichen, sozialen und auch ökologischen Verwerfungen werden von einem Wirtschaftssystem verursacht, das als alternativlos gilt. Die Umverteilungsdebatten werden mit der zunehmenden Automatisierung vieler Lebensbereiche noch virulenter werden. Was können wir tun?

Flaßpöhler: Die vermeintliche Alternativlosigkeit ist es, die die Alternative für Deutschland groß gemacht hat. Die Populisten profitieren von einer Politik des Sachzwangs, die immer nur reagiert und nicht agiert. Die keine Ideale hat, sondern nur Realitäten kennt, die man in ihrer ganzen Komplexität berücksichtigen muss. Wir alle sehen und wissen, dass es in Deutschland ein enormes Gefälle gibt zwischen Arm und Reich, die SPD hätte hier die Möglichkeit, ihr Kerngeschäft zu bespielen, stattdessen handelt sie mutlos und angstgetrieben und verliert zu Recht ihre Wählerschaft. Oder nehmen Sie die Causa Maaßen: Natürlich hätte der Mann nach seinen haltlosen Äußerungen zu Chemnitz direkt den Hut nehmen müssen. Ein Verfassungsschutzpräsident darf nicht zündeln, darf die Demokratie nicht gefährden, indem er Öl ins Feuer gießt, sondern er soll sie gefälligst schützen. Das ist doch völlig klar. Aber halt, da gibt es ja auch noch den Seehofer, den man beschwichtigen muss, und der will Maaßen ja halten. Was dann dazu führt, dass man Kompromisslösungen findet, die für keinen Menschen nachvollziehbar sind, oder viel zu spät reagiert. Eine Politik, die uns aus der Krise führt, braucht notwendigerweise eine gewisse Risikobereitschaft. Und um sich von der Rückwärtsgewandtheit der Populisten abzugrenzen, braucht es vor allem dies: eine Vision. Die Vorstellung einer Zukunft, für die es sich wieder zu kämpfen lohnt. (Stefan Gmünder, 7.11.2018)