Der analoge Filmstreifen leuchtet in digitalen Farben: Jean-Luc Godard blickt in "Le livre d'image" auf Bilder zurück und fügt sie zu neuen Serien zusammen.

Foto: Cinestar

Einen mahnend erhobenen Zeigefinger zeigt das erste Bild des Films. Gemeinhin eine Geste, mit der man moralische Autorität unterstreicht: "Ohren spitzen! Was folgt, ist von Bedeutung." Eine Ermahnung könnte es sein, oder eine Warnung. Doch bei Jean-Luc Godard, dem sphinxhaften Kinophilosophen, ist Moral keine auktoriale Angelegenheit. Er spricht nicht von oben herab zum Volk. Seine Filme kommen ohne Gebrauchsanleitung und wollen mittels Irritationen verführen. Sie sind gegen den geradlinigen Sinnstrom der Bilder gerichtet, gegen all diese stabilen Bild-Sinn-Bauten.

Trailer zu "Le livre d'image".
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Deshalb sollte man den Zeigefinger – er stammt aus Da Vincis Johannes der Täufer – als ein erstes Zeichen dafür nehmen, dass dieser Bildessay mit der ganzen Hand des Montagearbeiters zu "denken" versucht. Nach Film socialisme und Adieu au langage, die beide zu weiten Teilen mit neu gedrehtem Material arbeiteten, kehrt Godard in Le livre d'image zum Archivprinzip seiner Histoire(s) du cinéma (1988-1998) zurück: Er gräbt und wühlt sich durch den (film-)geschichtlichen Bilderfundus, den er noch um virale Online-Videos wie solche vom "Islamischen Staat" erweitert, um eines seiner dichten Lexika zu erstellen.

Die erste Überraschung lautet, wie gegenwärtiger dieser Film des 87-Jährigen ist. Gegenwärtig in seinem Ingrimm über den Zustand einer Welt, die sich immer wieder in denselben Gewaltmustern verfängt; und voll Zorn darüber, dass die Menschheit Trost in falschen Heilsversprechungen sucht und davorsteht, die Demokratie an die "Idioten an der Macht" zu verraten. Also doch eine Mahnung? Durchaus, aber in einer Form, die offenbleibt.

Insgesamt besteht Le livre d'image aus fünf Kapiteln, die Godards eigene Stimme wie ein Insekt aus dem Off begleitet, das einen mal aus jenem, mal aus dem anderen Lautsprecher anfliegt und dabei auch noch verschiedene Stimmintensitäten annimmt. Ähnlich spielerisch werden die Bildgrößen ständig neu justiert, so als würde man auf der Fernbedienung noch nach dem richtigen Format suchen.

Utopie und Katastrophe

Godard verweist damit auf die Diversität des Materials, das überschrieben, übermalt und neu zusammengesetzt wird. "Remakes", so der Titel des ersten Kapitels, untersucht, wie das (Erzähl-)Kino mit der Geschichte in Dialog steht und deren Utopien und Katastrophen mitformuliert. Wobei Godard gewagte Montageserien setzt, die reale und fiktive, also nachgestellte Gewalt verschränken.

Im zweiten Teil gibt es eine lange Sequenz, die Zugmotive aus verschiedenen Quellen zu einem einzigen alternativen Zug der Geschichte verkuppelt – der fährt die Deportierten immer wieder von Neuem in die Lager, erzählt aber auch von Freund-Feind-Konstellationen wie in Berlin-Express oder von der Revolution in Dowschenkos Erde. Natürlich ist er als Analogie für das Kino zu verstehen.

Am Ende ergeben die Kapitel eine Hand, "ein Ganzes, das durch fünf Finger gegliedert wird", wie der Autor Bernard Eisenschitz in seinem Brief an Godard schreibt. Die zwei letzten zeigen noch ausdrücklicher in eine politische Richtung: In "L'esprit de lois" (nach Montesquieu) geht es um die Verwandlung von Recht in Gesetz und damit auch um den Gegensatz des geschriebenen Worts (der Gesetzbücher und Bibeln) zum "Bilderbuch", das Godard vorschwebt. Das will nämlich keine Regeln aufstellen.

Wie ein Geschichtenerzähler

Noch eine Überraschung: Entlang von Albert Cosserys Roman Une ambition dans le désert, der ein satirehaftes Szenario um einen gebeutelten arabischen Staat entwirft, blättert sich Godard wie ein Geschichtenerzähler zurück in die orientalische Welt. Das "glückliche Arabien", von dem Alexandre Dumas noch in seinen Reisetagebüchern schrieb, liegt in Trümmern. Die Jagd wird dennoch immer wieder neu eröffnet.

Godard hütet sich freilich, zum Botschafter einer Sache zu werden. Aber er breitet andere Bilder über jene, die vom Orient in Umlauf sind. Friedvollere und melancholischere – wehmütige Medizin gegen die Gewalt des medialen Alltags. Warum fragt niemand mehr nach der Utopie, so Godard, warum wollen "alle Könige sein, aber niemand mehr Faust"?

In Cannes wurde Godard für Le livre d'image mit einer eigenen Goldenen Palme prämiert – "für einen Film fast außerhalb der Zeit und des Raums": Eine eigentlich seltsame Formulierung für einen Film, der uns trotz seiner experimentellen Form in unserem Selbstverständnis trifft. (Dominik Kamalzadeh, 8.11.2018)