Es gibt mindestens zwei Typen, bei denen Netta Barzilai schwach wie Spielzeug wird: Harry Potter und Conchita Wurst. Am britischen Zauberlehrling liebt sie das Magische, das Irreale, das nicht von dieser Welt scheint. Zweitere ist der Grund, warum die Siegerin des Eurovision Song Contest 2018 ihre Tournee in Wien beginnt. Conchita, "mein Mädchen", habe sie inspiriert, sagt die stolze Israelin, die mit Voice-Looper, Stimmakrobatik und klarer Botschaft ('I'm not your toy, you stupid boy") völlig zu Recht das völkerverbindende Wettsingen in Lissabon für sich entscheiden konnte. Der STANDARD erreichte Netta am Telefon – und holte sie auf den Boden der Tatsachen zurück. Zum Glück nur kurz.

Eurovision Song Contest

STANDARD: In einer österreichischen Tageszeitung hat ein ehemaliger Chefredakteur über Sie geschrieben: "Sie war hässlich. Sie war dick. Sie war jenseits aller Ideen zuwider. Sie war abgrundtief schiach." Was sagen Sie dazu?

Barzilai: Ich wünsche diesem Menschen alles Gute.

STANDARD: Der Autor ist leider verstorben.

Barzilai: Oh, das tut mir leid. Dann ist es aber nicht sehr fair, mich mit dieser Person zu konfrontieren, oder?

STANDARD: Ich wollte seine Argumentation ansprechen ...

Barzilai: Sind das Argumente? Es ist nur angriffig.

Foto: Clemens Kominsky

STANDARD: Ich glaube, er wollte sagen, heutzutage reiche es schon zum Sieg, wenn man einfach nur anders ist.

Barzilai: Ich will es so sagen: Jeder hat seine Meinung, und eine Meinung ist wie ein Arschloch, jeder hat eins. Ich glaube, dass ich schön bin und dass ich es verdiene, auf dieser Bühne zu sein, weil ich Talent habe. Ich habe mit meinem Talent den Eurovision Song Contest gewonnen, und mit nichts anderem. Der Umstand, dass ich so perfekt und mit meinem Aussehen so einverstanden war, machte diesen Auftritt so stark. Meine Botschaft war größer. Ich kann über solche Aussagen nur lachen. Es ist wichtig, dass es Frauen wie mich gibt.

STANDARD: Welche Erfahrungen haben Sie mit Hasspostings?

Barzilai: Ich würde lieber über die Liebe sprechen, die ich nach dem Song Contest empfangen durfte. Ich bekam bergeweise Briefe von Buben und Mädchen. Ich habe sie glücklicher gemacht, und sie gehen heute mit erhobeneren Köpfen in die Schule. Es geht um so viel mehr als nur um meinen Look. Natürlich habe ich auch Hasspostings bekommen, manche Menschen fürchten sich vor jenen, die anders sind, die nicht in eine Schachtel passen.

Foto: Clemens Kominsky

STANDARD: Woran liegt das?

Barzilai: Es ist ein Medienproblem. Wir sehen in den Magazinen nur eine Art von Schönheit, nur eine Farbe, eine Größe. In Israel ist die Durchschnittsgröße für Frauenbekleidung 42, aber die meisten Stücke gehen maximal bis Größe 44. Es spielt aber keine Rolle, wie du aussiehst und wie viel du wiegst. Meine Präsenz in der Primetime ist dabei sehr hilfreich. Mein ganzes Leben lang wurde mir vorgesagt, wie ich glücklich werden kann: Mach eine Diät, nimm ab, nur dann kannst du erfolgreich sein, einen guten Job haben und einen Freund kriegen. Es tut mir leid, aber das ist so eine Scheiße! Es geht doch darum, dass du dich selbst liebst und eine coole Person bist. Du musst jeden Tag versuchen, ein gutes Individuum und gut zu dir selbst zu sein, dann klappt das. Und das tue ich.

Foto: Clemens Kominsky

STANDARD: Was ist seit Mai in Ihrem Leben passiert?

Barzilai: Vor genau einem Jahr war ich noch völlig unbekannt. Meine Mutter war unzufrieden, weil ich nur Musik im Kopf hatte und damit nicht weiterkam. Ich arbeitete als DJ bei Hochzeitsfeiern, bekam keinen Job als Backgroundsängerin, weil ich zu auffällig aussah. Für mich war aber immer klar, dass meine Sache ganz groß werden muss, etwas anderes kam für mich nicht infrage. Ich wusste, dass ich ein Kontrollfreak bin und dass ich alle Instrumente selbst bedienen möchte. Ich konnte kein einziges Instrument selbst spielen, aber ich hatte meine Beatbox und meinen Vocal-Looper. Ich traf mit meinem Produzenten eine Abmachung und trat im israelischen Fernsehen auf, um mir so Auftritte zu verschaffen und meine Mutter aus meinem Nacken zu bekommen. Es funktionierte, ich war gerettet. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Mein Leben hat sich seit dem Song Contest komplett geändert. Ich bin in der ganzen Welt unterwegs, um meine Botschaft der Liebe zu verbreiten. Ich wusste nicht, welche Dimensionen dieser Wettbewerb hat. Ich war ein großer Fan, aber jetzt bin ich besessen.

STANDARD: Was bringt der Song Contest finanziell? Könnten Sie sich theoretisch schon zur Ruhe setzen?

Barzilai: Noch nicht ganz. Da naschen eine Menge Menschen mit an diesem Kuchen. Ich bin Geschäftsfrau geworden. Es gibt ein Management, und es gibt eine Menge Investitionen. Im ganzen Jahr 2017 blieben genau 1.000 Dollar für mich – gerade genug, um täglich einen Big Mac zu kaufen. Das war's.

Foto: Clemens Kominsky

STANDARD: Welche Rolle werden Sie 2019 in Tel Aviv spielen?

Barzilai: Das darf ich nicht sagen, ich würde große Probleme kriegen, wenn ich das verraten würde.

STANDARD: Moderieren zum Beispiel – wie Conchita?

Barzilai: Ich wäre keine gute Moderatorin. Aber lustig, dass Sie Conchita erwähnen, denn sie ist der Grund, warum ich meine Tournee in Wien starte. Conchita ist mit Dana (1998, Anm.) die einzige Gewinnerin, die wirklich Konventionen durchbrochen hat.

STANDARD: Werden Sie sie treffen?

Barzilai: Ich bin nicht sicher, ich hoffe sehr und würde es hiermit auch kundtun: Sagt meinem Mädchen, ich möchte es gerne treffen! (Doris Priesching, 10.11.2018)