Über die Ursprünge von Chicken Tikka Masala gehen die Meinungen auseinander. Der Legende nach wurde das Curry in einem indischen Restaurant in Glasgow erfunden: Ein schottischer Busfahrer beschwerte sich, dass sein Tandoori Chicken zu scharf und trocken sei. Der Wirt trug das gegrillte Fleisch ratlos zurück in die Küche, wo gerade sein Vater zu Abend aß. Der alte Mann litt an einem Magengeschwür und hatte von seinem Arzt Tomatensuppe als Schonkost verschrieben bekommen.

Er empfahl seinem Sohn, einfach etwas Tomatensauce auf das Huhn zu kippen und es erneut aufzuwärmen. Der Busfahrer war begeistert und kam bald mit all seinen Freunden wieder. Chicken Tikka Masala war geboren. (Diese Ursprungslegende hat zu einem schottischen Antrag auf geografisch geschützte Herkunftsbezeichnung und einem Streit mit indischen Kulinarikhistorikern geführt.)

Foto: Tobias Müller

Die Geschichte ist schön, aber unwahrscheinlich. Nach einem Mal Chicken Tikka Masala kochen bin ich mir ziemlich sicher, dass es schlicht als Resteverwertung von altem Tandoori Chicken entstand, das in einer cremigen Sauce neu aufgewärmt wurde, und Rick Stein beschreibt ein sehr ähnliches Gericht in seinem indischen Kochbuch als typisch für die Küche Amritsars. Was hingegen ganz sicher stimmt: Indische Küche hat das Essen der Briten maßgeblich geprägt.

Bereits im frühen 19. Jahrhundert eröffneten in London die ersten indischen Lokale, oft betrieben von indischen Seeleuten, die so versuchten, mehr Geld mit weniger Gefahr zu verdienen. Heute, knappe 200 Jahre später, ist das "Curryhouse", also der Inder ums Eck, die häufigste Art von Restaurant in Großbritannien (soweit ich weiß noch vor der Fish-and-Chips-Bude), und Chicken Tikka Masala wird in jedem von ihnen serviert und am häufigsten gegessen.

Das geht so weit, dass der ehemalige britische Außenminister Robin Cook in seiner als "Chicken Tikka Masala Speech" berühmt gewordenen Rede das Hühnercurry zum britischen Nationalgericht erklärte. Nicht namensgebend wurde, dass Cook in der Rede auch Großbritanniens EU-Mitgliedschaft und Multikulti-Gesellschaft verteidigte. Bevor die Briten kommendes Jahr die EU verlassen, habe ich mich daher noch schnell daran gemacht, es für diese kleine Europa-Serie zu kochen.

Ziemlich saucenlastig

Das Prinzip hinter Chicken Tikka Masala ist relativ einfach: Hühnerfleisch, meist Brust, wird erst mit einer Gewürzmischung und Joghurt mariniert, dann im Tandoori-Ofen gegrillt und schließlich kleingeschnitten in einer Joghurt-Tomaten-Gewürz-Sauce serviert. Das klassische Ergebnis ist würzig, aber nicht scharf, und ziemlich saucenlastig. Das ist alles per se nicht schlecht, allerdings bergen diese Charakteristika – mild, viel Sauce, Huhn – gewisse Gefahren. Christian Cummings hat Chicken Tikka für die "All You Can Eat"-Fremdausgabe einmal so beschrieben:

"Chicken Tikka Masala ist die Art von Curry, die du bestellst, wenn du zufällig in einem indischen Lokal landest, aber eigentlich kein indisches Essen magst. Nichts kann wirklich schiefgehen, es wird dich sattmachen und den Überschuss an Bier aufsaugen. Vage orange-rötlich, in Joghurt schwimmend und nicht zu scharf, gibt CTM (wie es liebevoll genannt wird) auch dem Curryverächter die Möglichkeit, bei der Curryparty mitgemacht zu haben. Es ist ein höfliches Gericht, unauffällig und langweilig, das kulinarische Äquivalent zu Fahrstuhlmusik – der Cliff Richard des Essens." (Den Rest des tollen Texts gibt es übrigens hier zu lesen)

Weil ich seinen Text wunderbar fand, habe ich Christian zu einem Chicken-Tikka-Abend eingeladen und mir als Kochverstärkung Richard Holmes geholt, Wiens besten britischen Wurstmacher und großen Chicken-Tikka-Fan. Er hat bei einem Heimatbesuch die indische Kochbuchbibliothek seiner Großmutter durchforstet und dort zahlreiche Rezepte für Chicken Tikka (und Ähnliches) dort gefunden und für uns gescannt. Gemeinsam haben wir uns dann in Wien ans Werk und den Versuch gemacht, ein anständiges Chicken Tikka zu kochen, das einem auch nüchtern schmeckt. Ich finde, es ist uns durchaus gelungen.

Chicken Tikka Masala, frei nach den Büchern von Richards Großmutter

Eine Untersuchung mehrerer Hundert Chicken-Tikka-Rezepte soll ergeben haben, dass die einzige Gemeinsamkeit aller Rezepte das Huhn war – CTM bietet also durchaus Interpretationsspielraum. Ich habe ein paar Dinge anders gemacht als die meisten Rezepte, in der Hoffnung, ein besseres Ergebnis zu erzielen: Erstens habe ich ganze Hühner verwendet statt nur die fad-trockene Brust, damit war dann zumindest ein gewisser Anteil an Keulen im Curry enthalten; zweitens habe ich weniger Sauce verwendet, um das Verhältnis von Fleisch zu Gatsch ein wenig anders zu gestalten; drittens habe ich Hühnersuppe dazugegeben, weil ich dank der ganzen Hühner welche kochen konnte; und viertens: Ich habe auf mehr Chili gesetzt.

Meine Gewürzmischung wiederum – das namensgebende Masala – habe ich dieser hier nachempfunden, wenn mir auch für meinen Geschmack ein wenig zu viel Kardamom hineingerutscht ist. Bei der Saucenreduzierung habe ich es etwas übertrieben: Das Chicken Tikka war mehr ein Gulasch als ein Curry und hätte durchaus etwas mehr Saft vertragen. Die beiden britischen Gäste zumindest haben genau das gelobt: Beim Inder ums Eck sei immer zu wenig Fleisch und zu viel Sauce im Curry, meinten sie höflich. Die Mengenangaben unten sind dennoch für eine etwas saucigere Variante.

Zuerst die Gewürzmischung:

1 Teil schwarze Pfefferkörner

2 Teile Kreuzkümmelsamen

2 Teile Koriandersamen

Die Samen aus etwa 20 Kardamomkapseln

4 Nelken

Ein Stück Cassia-Rinde

Foto: Tobias Müller

Am Tag, bevor Sie Ihr Curry kochen wollen, rösten Sie alle Gewürze in einer trockenen Pfanne ein paar Minuten, bis sie gut zu riechen beginnen. Dann mahlen Sie alles in einem Mörser zu einem feinen Pulver. Falls die Zimtstange sich ziert: Mischung durch ein Sieb sieben, gröbere Zimtstücke zurück in den Mörser geben und fertigmörsern. Luftdicht verschlossen und nicht zu lange aufheben.

Foto: Tobias Müller

1 Huhn

3 Esslöffel gutes Joghurt

250 ml Sauerrahm

Saft einer Zitrone (oder ein bisschen vergorene Salzzitrone)

1 getrocknete Chili, gehackt

3 Knoblauchzehen

Ein daumengroßes Stück Ingwer

1 mittelgroße Zwiebel, fein gehackt

Butter zum Anbraten

1/2 Dose Tomaten

Ein wenig Tomatenpaste

1/4 Liter Hühnersuppe

Gehackter Koriander

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Das Huhn zerlegen. Joghurt, zwei Esslöffel Sauerrahm, Zitrussaft, Chili und zwei Esslöffel der Gewürzmischung mischen, Huhn damit ordentlich einreiben und über Nacht marinieren lassen.

Foto: Tobias Müller
Foto: Tobias Müller

Am nächsten Tag den Backrohrgrill vorheizen. Die Hühnerteile auf einen Rost legen und unter dem Grill beidseitig braten, bis sie ordentlich Farbe angenommen haben, insgesamt so etwa 15 bis 20 Minuten.

Foto: Tobias Müller

Währenddessen Knoblauch und Ingwer ebenfalls mörsern und mit den gehackten Zwiebeln in einem Bräter kurz in Butter anbraten.

Foto: Tobias Müller

Tomatenpaste und Tomaten zugeben und alles ein wenig einkochen lassen. Joghurt, Obers und die Hühnersuppe dazugeben, und alles etwa 45 Minuten auf niedriger Flamme köcheln lassen.

Foto: Tobias Müller

Das gegrillte Huhn, falls Sie das nicht schon vorher getan haben, vom Knochen lösen. In mundgerechte Stücke zerteilen.

Foto: Tobias Müller

(Wir haben es uns nicht nehmen lassen, die gewürfelte, gegrillte Brust gleich so als Vorspeise zu verkosten. Ich persönlich fand sie nur gegrillt fast besser als später im Curry.) Die Stücke in die Sauce geben und kurz durchziehen lassen. Mit Koriander bestreuen und mit Reis servieren. (Tobias Müller, 11.11.2018)

Foto: Tobias Müller

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Die Versöhnung mit der Hühnerbrust