Ballettdirektor Manuel Legris (re.) hat selber in "Sylvia" getanzt, hier als Aminta neben Aurelie Dupont (li.) im Zuge der "Nurejew Gala" 2013 an der Wiener Staatsoper. Am Samstag zeigt er seine Neufassung nach Louis Mérante u.a.

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Er hat das Wiener Staatsballett zu einer Compagnie gemacht, die sich mit den Top-Formationen des Spitzentanzes in Paris, London, und Moskau messen kann. Nachdem der ehemalige Pariser Étoile-Tänzer Manuel Legris 2010 Gyula Harangozó abgelöst hatte, brachte er "seine" Tänzerinnen und Tänzer auf ein zuvor schwer vorstellbares Qualitätsniveau. Das hat sich gelohnt: Mit einer Auslastung von rund 98 Prozent kamen 2017/18 durchschnittlich genauso viele Besucher zum Ballett in die Staatsoper wie zu den Opern. Dabei konzentriert sich Legris im Programm vor allem auf Werke des klassischen Balletts. Auch seine eigenen Choreografien sind Klassiker, 2016 war das seine Version von Le Corsaire (1856) und jetzt in Sylvia, ursprünglich entstanden 1876. Als Avantgardist oder zumindest Postmodernist gilt er also nicht.

STANDARD: Denken Sie auch an die Gegenwart, wenn Sie an klassischen Stücken arbeiten?

Legris: Sicherlich! In vielen Balletten sind die jeweiligen Situationen wirklich aktuell. Bei Sylvia kommt Eros, der Gott der Liebe, auf die Bühne. Er kontrolliert die ganze Situation und macht, was er will. Liebe ist komplex – und sehr zeitgemäß, so wie die starken Frauenfiguren, die sich einfach nicht verlieben wollen. Die ganze Geschichte von Sylvia thematisiert das Verhältnis zwischen Regeln und dem Unkontrollierbaren.

STANDARD: Kann man diese Handlung heute überhaupt noch verstehen?

Legris: Es gibt bestimmte Codes, die wir, auch wenn sie nicht sofort zu entschlüsseln sind, erhalten sollten. Gemälde im Museum kann man ja auch nicht ändern. Ballette können anders präsentiert werden, aber die Bedeutung sollte dieselbe bleiben. Will man eine mythologische Atmosphäre mit Olymp, Göttern und Nymphen erhalten, muss man auch deren Magie bewahren. Das ist Teil des klassischen Balletts. Also bleibt die Geschichte der Sylvia bei mir zwar wie in der klassischen Version, aber ich gebe dem Publikum verschiedene Elemente dazu, damit es die Handlung versteht.

STANDARD: Ist also das klassische Ballett ein "lebendiges Museum" ähnlich den Museen für historische bildende Kunst?

Legris: Ich glaube schon, ja. Das wäre ein guter Weg, um Aufmerksamkeit und auch neues Publikum zu gewinnen. Denn wir müssen auch um das klassische Ballett kämpfen, das viele ja sehr schätzen. Ich liebe es wirklich, aber ich habe schon das Gefühl, dass es manchmal auf recht altmodische Art präsentiert wird. Besser wär's, ein neues klassisches Ballett zu zeigen, bei dem die Leute sagen: Wir können die Verbindung zur Vergangenheit sehen, aber was wir sehen, ist auch modern und aktuell.

STANDARD: Nimmt das klassische Ballett heute nicht eine immer speziellere Position unter den darstellenden Künsten ein?

Legris: Dieses Gefühl habe ich auch. Wenn nicht ein paar Leute noch in diese Richtung arbeiten wie ich, wird es komplett verschwinden. Das wäre eine Schande. Wenn wir sagen, dass das klassische Ballett verzichtbar ist, dann können wir auch alle Museen niederbrennen.

STANDARD: Wo liegen eigentlich die Probleme?

Legris: Klassisches Ballett braucht viel Arbeit an der Tradition, und es zu tanzen, ist entsetzlich schwierig. Sobald es mittelmäßig getanzt wird, ist es wirklich furchtbar! Also gehen heute ganz wenige Choreografen in die klassische Richtung. Eine große Compagnie wie die hier in Wien ist, auch wenn man eine neue Art findet, das klassische Repertoire zu präsentieren, eine große Herausforderung.

STANDARD: Und was ist mit dem modernen Ballett?

Legris: Ich bin wirklich offen für viele moderne Werke. Aber ich kenne deren Grenzen. Ich habe viele moderne Choreografien getanzt und auch die geliebt. Allerdings verabscheue ich diesen Kampf zwischen dem Modernen und dem Klassischen! Heute geht es um Aufrichtigkeit. Und ich hoffe ganz ehrlich, dass das Publikum sogar bei den Göttern in Sylvia für sich etwas entdeckt.

STANDARD: Welche Compagnien könnten dieses Stück noch umsetzen?

Legris: Jene, die das klassische Repertoire halten wollen. Und es muss eine starke Compagnie sein. Davon gibt es nicht viele. Das Mariinsky Ballett in St. Petersburg, das Moskauer Bolschoi, das Ballett der Pariser Oper, die Compagnie der Mailänder Scala und das Royal Ballet in London. Aber ich habe Sylvia wirklich für die großartigen Tänzer des Wiener Staatsballets kreiert.

STANDARD: Warum gerade "Sylvia"?

Legris: Weil ich dessen Tradition aufnehmen wollte. Und weil die Musik von Léo Delibes so schön ist. Das Wiener Publikum mag Modernes, aber auch wirklich das traditionelle Ballett, also ist das, wie ich hoffe, eine gute Entscheidung.

STANDARD: Wie sehen Ihre Pläne für die Zeit nach dem Ende Ihres Vertrags als Direktor des Wiener Staatsballetts aus?

Legris: Ich mache mir da keine Sorgen. Wien ist jedenfalls, mit Höhen und Tiefen, eine großartige Erfahrung. In Paris als Ballettmeister hätte ich nicht machen können, was hier möglich ist. (Helmut Ploebst, 9.11.2018)