Fabiano Caruana (rechts) saß Magnus Carlsen in bisher 33 klassischen Partien gegenüber.

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Bei 18 Unentschieden gewann der Herausforderer fünfmal, verlor aber zehn Spiele.

AP / dapd / Alvaro Barrientos

London – Wenn sich Magnus Carlsen an ein Schachbrett setzt, dann ist er Favorit – egal wie der Gegner heißt. Der 27-jährige Weltmeister aus Norwegen dominiert die Schachwelt seit sieben Jahren, so lange hält er bereits ununterbrochen Platz eins der Weltrangliste. Agiert er in Hochform, dann gibt es für die anderen nichts zu holen. Läuft es nicht ganz so rund, dann reicht es für Carlsen zumeist dennoch für den Turniersieg. Zweite Plätze hat das einstige Wunderkind längst als Niederlagen zu werten gelernt.

Sand im Getriebe

2013 kürte sich Carlsen mit einem Sieg über den Inder Viswanathan Anand zum erst 16. Weltmeister in jener Ahnenreihe, an deren Anfang 1886 der Altösterreicher Wilhelm Steinitz stand. Zweimal hat der Champion seinen Titel seither in Zweikämpfen verteidigt, so wollte es das Reglement des Weltschachbundes (Fide). Beide Male blieb Carlsen spielerisch unter seinen sowie den Erwartungen der Schachwelt.

Als 2016 zig Millionen per Internet zugeschaltete Beobachter sehen wollten, wie der Norweger in New York City seinen Kontrahenten Sergei Karjakin aus Russland zerlegt, versagten Carlsen Form und Nerven: Nach einer langen Remisserie geriet er gegen Defensivkünstler Karjakin in Rückstand, konnte erst kurz vor Schluss seinen ersten Sieg einfahren und ausgleichen. Schließlich rettete er den Titel mit Hängen und Würgen im Schnellschach-Tiebreak.

Seither ist beim Champion Sand im Getriebe. Der Vorsprung in der Weltrangliste schmilzt, ein kecker Italoamerikaner namens Fabiano Caruana ist dem mitunter mürrisch wirkenden Weltmeister bis auf drei mickrige Elo-Pünktchen auf den Pelz gerückt. Carlsen würde den Vorsprung gern in Ruhe wieder vergrößern, aber da gibt es ein Problem: Er muss von 9. bis 26. November in London zwölf Partien klassisches Schach gegen Caruana spielen. Unterliegt Carlsen, dann ist er WM-Titel und Platz eins der Weltrangliste gleich in einem Aufwaschen los. Es wäre der größte Paukenschlag der jüngeren Schachgeschichte.

Caruana im Vormarsch

Der Kampf um den höchsten Titel im Schach begeistert Aficionados wie Gelegenheitsspieler seit mittlerweile 132 Jahren. Der Modus hat sich in dieser Zeit ein paar Mal geändert, das Prinzip ist dasselbe geblieben: zwei Spieler, eine lange Serie Partien, genügend Bedenkzeit. Wer seinen Kontrahenten in diesem ultimativen Endspiel des Geistes bezwingt, darf sich mit Recht Weltmeister nennen – und erhält das Privileg, abzuwarten, bis ein neuer Herausforderer den steinigen Weg der Qualifikation für das Finale erfolgreich hinter sich gebracht hat.

Fabiano Caruana hat genau das getan, und zwar mit Bravour. 2018 war bisher das Jahr des 26-jährigen Doppelstaatsbürgers, der das Kandidatenturnier zu Berlin im März verdient für sich entschied und damit das Recht erwarb, Carlsen in einem Zweikampf zu fordern. In zwei darauffolgenden Topturnieren triumphierte Caruana ausgerechnet vor dem ans Siegen gewöhnten Weltmeister und verdarb diesem damit gehörig die Laune.

Nicht nur deswegen wird der bevorstehende Zweikampf mit besonderer Spannung erwartet: Seit dem legendären WM-Match Bobby Fischer gegen Boris Spasski ist kein US-Amerikaner mehr im Endspiel um den Weltmeistertitel im Schach gestanden. Ein Sieg Caruanas, der 2015 vom italienischen zum US-Verband wechselte, könnte in den Staaten womöglich einen ähnlichen Schachboom auslösen wie Fischers Triumph 1972.

Offenes Visier

Aber hat Fabiano Caruana wirklich das Zeug dazu, Carlsen vom Thron zu stürzen, den nach wie vor eine Aura der Unbesiegbarkeit umgibt? "Er ist der erste Herausforderer Carlsens, der sich den Sieg selbst zutraut", kommentierte Schachlegende Judit Polgár kürzlich, die in London als Live-Kommentatorin dabei sein wird. Tatsächlich schätzt Caruana seine Chancen gegen Carlsen laut eigener Aussage auf 50:50.

Viele Beobachter erwarten, dass der Weltranglistenzweite seinem aggressiven Stil auch in London treu bleiben wird. Angreifen, das Spiel verwickeln, Carlsen aus seinem so geliebten ruhigen Fahrwasser befördern – das muss Caruana wohl versuchen, wenn er den Champion ausknocken will.

Sollte die Matchstrategie des Herausforderers wirklich diesem Prinzip gehorchen, dann steht der Schachwelt womöglich ein WM-Kampf mit stilistischen Parallelen zu den berüchtigten Duellen zwischen Gari Kasparow und Anatoli Karpow bevor. C&C in der City of London, das verspricht schwarz-weiße Brutalität. "Ich wäre nicht überrascht, wenn vier oder fünf Partien mit einer Entscheidung enden", sagt Magnus Carlsen dazu trocken. Dass er selbst dabei am Ende den Kürzeren ziehen könnte, daran darf Carlsen nicht zu oft denken, wenn er in drei Wochen noch Weltmeister sein will.

Die WM, die am Freitag um 15 Uhr Lokalzeit (16 Uhr MEZ) im The College in Holborn, London beginnt, ist zunächst bis 26. November anberaumt. An sechs Tagen (erstmals am Sonntag) wird geruht. Sollte es nach zwölf Partien unentschieden stehen, entscheidet am 28. November ein Tiebreak mit verkürzter Bedenkzeit. (Anatol Vitouch aus London, 9.11.2018)