Die Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB) hat kürzlich ihre erste Crowdsourcing-Kampagne "Österreich aus der Luft" veröffentlicht. Dabei handelt es sich um eine Sammlung von Luftbildern, die Österreich in den 1930er-Jahren zeigen. Die historischen Aufnahmen machen die seither eingetretenen Veränderungen deutlich: Seen mit für Badefreudige frei zugänglichen Ufern inmitten saftiger Wiesen, Eisformationen hochalpiner, vom Klimawandel noch nahezu unberührter Gletscher, Städte und Dörfer mit klaren Grenzen zwischen Kern und Peripherie. Interessierte Freiwillige sind ab sofort eingeladen, ihr Wissen zu diesem Bestand zu teilen.

Im Jahr 1928 wurde die Luftbildabteilung der ÖLAG ("Österreichische Luftverkehrs AG") gegründet, einer ehemaligen Fluggesellschaft mit dem Heimatflughafen Wien-Aspern. Die Luftbildabteilung – neben dem Passagierbetrieb wichtiger Nebenzweig der Gesellschaft – hatte den Zweck, sowohl orthogonale Luftbilder für das Vermessungswesen als auch Schrägluftbilder für den Fremdenverkehr aufzuzeichnen.

Fotomontage "Austroflug"-Flugzeug, Praterstraße und Praterstadion (Wien), Schafberg (Salzburg).
Foto: Österreichische Nationalbibliothek

Die erste Crowdsourcing-Kampagne der ÖNB

Die Luftbildsammlung war in analoger Form bis dato nur einigen wenigen Experten zugänglich. Nun liegen die Aufnahmen erstmals als Digitalisate mit hohem Detailgrad vor und sind über das Crowdsourcing-Portal abrufbar. Dadurch erhält die interessierte Öffentlichkeit die Möglichkeit, an der Erschließung dieser besonderen Bilder mitzuwirken. Insgesamt stehen dafür fünf Aufgaben mit den Schwerpunkten "Wissen sammeln" und "Wissen überprüfen" zur Verfügung. Sind alle Aufgaben für ein Bild durchlaufen, ist dieses künftig komfortabel nach unterschiedlichen Kriterien auf dem Portal auffindbar.

Definition und Anwendungsmöglichkeiten von Crowdsourcing

Crowdsourcing bezeichnet wörtlich genommen die Auslagerung (englisch Outsourcing) von Aufgaben an eine Personengruppe (englisch Crowd). Um dem Sinn des Begriffs gerecht zu werden, könnte man allerdings auch von einer Einbindung der interessierten Öffentlichkeit sprechen. Verwandte Themenfelder sind Crowdfunding, Open Innovation und Citizen Science, die ihrerseits jeweils mehr oder weniger stark andere Schwerpunkte besetzen.

Als gemeinhin bekannteste Crowdsourcing-Initiative gilt Wikipedia. Die Enzyklopädie erfreut sich ungebrochen reger Beteiligung. So kann eine breite Masse an Themen wesentlich detaillierter und aktueller behandelt werden als von einem Redaktionsteam mit geringeren Ressourcen – und das in allen erdenklichen Sprachen. In der Naturwissenschaftscommunity steht Citizen Science dafür, dass Beobachtungen, Messungen und Zählungen, für die es oft nur geringe Mittel gibt, von nichtwissenschaftlichem Personal übernommen werden können. Eine konkrete Ausprägung dessen ist Zooniverse, eine Crowdsourcing-Plattform für Forschungsprojekte. Hier werden beispielsweise Hurricanes in Satellitenbildern identifiziert oder, mittels Überwachungskamerafotos, Wildtiere in freier Wildbahn klassifiziert. Zooniverse wird laufend um neue Crowdsourcing-Kampagnen erweitert.

Interessant – und mitunter kurios – wird Crowdsourcing dort, wo eine Institution die Beiträge, die von der Crowd kommen, nicht steuern kann. Fast wäre es dazu gekommen, dass das Forschungsschiff RSS Sir David Attenborough, nach Aufruf zur öffentlichen Namensfindung, als "Boaty McBoatface" in See gestochen wäre. Der Name avancierte zum Favoriten in der Online-Umfrage, in der sich Freiwillige als Namenspatrone einbringen konnten.

Crowdsourcing an Bibliotheken

An Bibliotheken spielt Crowdsourcing schon seit einigen Jahren eine wichtige Rolle. Dabei unterscheiden sich die Art der Portale und Bestände sowie der Umfang der Projekte enorm. Als Vorreiterin gilt die Library of Congress. 2008 gab die Bibliothek Fotografien via Flickr Commons zur Ansicht und Bearbeitung frei. Durch die von Freiwilligen identifizierten Personen- und Ortsnamen konnte der Online-Bibliothekskatalog angereichert werden.

Mit dem Crowdsourcing-Projekt What’s on the Menu wurde die interessierte Leserschaft der New York Public Library zur Transkription historischer Speisekarten eingeladen. Nun ist es beispielsweise möglich, das quantitativ am öftesten auf Speisekarten vorkommende Gericht der 1890er-Jahre zu identifizieren und dadurch Rückschlüsse auf die damalige (Ess-)Kultur zu ziehen. Kuratierte Story-basierte Narrative wie "Train-Menus" oder "Mad-Men-Menus" schmücken den Blog der New York Public Library und werfen Schlaglichter auf Spezialthemen.

In Europa bat die ETH-Bibliothek in Zürich Swissair-Pensionisten zur systematischen Beschreibung von Fotografien aus dem Bildarchiv der Fluglinie. Die ehemaligen MitarbeiterInnen konnten – als Spezialisten – den Bestand äußerst genau beschreiben. Auch die British Library lud mittels Crowdsourcing-Portal zur Transkription von alten Katalogkärtchen (Kampagne: "Convert-a-Card") und zur Klassifikation von Theaterprogrammen (Kampagne: "In-the-Spotlight").

Crowdsourcing soll die Arbeit des Bibliothekspersonals nicht ersetzen, sondern stellt eine Möglichkeit zur Benutzerpartizipation dar. Mit zunehmender Digitalisierung stehen nun innovative und alternative Möglichkeiten der Erschließung zur Verfügung, deren Einsatz für Bibliothek und Leser gleichermaßen eine Bereicherung darstellen.

In diesem Selbstverständnis hat die Österreichische Nationalbibliothek Crowdsourcing als einen Schwerpunkt ihrer strategischen Ziele 2017-2021 festgelegt. Ermöglicht wird die Umsetzung des Projekts durch die Unterstützung der Österreichischen Lotterien sowie der Gesellschaft der Freunde der Österreichischen Nationalbibliothek.

Herausforderungen bei der Konzeption eines Crowdsourcing-Portals

Mit der Crowdsourcing-Initiative werden die Benutzer ins Zentrum gerückt. Wesentlich ist dabei, eine Inszenierung von Beständen zu wählen, die unterschiedlichste Benutzergruppen anspricht. Dieses Vorhaben ist verknüpft mit einer Vielzahl von Fragen, die bei Konzeption, Gestaltung und Umsetzung eine Rolle spielen. Zum Beispiel: welcher Bestand eignet sich für Crowdsourcing? Mit welchen Aufgaben für die Crowd lässt sich der Bestand sinnvoll erschließen? Wie lässt sich eine Benutzeroberfläche entwerfen, die trotz Komplexität im Hintergrund für Anwender einfach und niederschwellig zu bedienen ist? Wie kann eine Qualitätskontrolle durch die Crowd selbst durchgeführt werden? Fragen, auf die das Projektteam Antworten gesucht und gefunden hat.

"Tagging": Von Benutzern eintragbare Tags stammen großteils aus der "Gemeinsamen Normdatei".
Foto: Österreichische Nationalbibliothek

Die Konzeption von Crowdsourcing-Projekten bringt eine Vielzahl an technischen Herausforderungen mit sich. Zum Beispiel muss ein Weg zur Einbindung von Normdaten gefunden werden, damit eine bibliothekarische Weiternutzung der eingegebenen Daten möglich ist. Das Projektteam entschied sich für den Einsatz einer Teilmenge von Schlagworten aus der Gemeinsamen Normdatei der Deutschen Nationalbibliothek. Damit Benutzer bei Ortsnamen nicht mit unterschiedlichen Schreibweisen konfrontiert sind, stammen diese aus der freien Datenbank Geonames. Beide Services stellen Instanzen eines sogenannten kontrollierten Vokabulars dar.

Ausblick

Durch die Crowdsourcing-Initiative könnten die Kernaufgaben bibliothekarischer Erschließung künftig durch alternative Methoden ergänzt werden. Auf dem Crowdsourcing-Portal wäre etwa auch ein "Emotionales Tagging" denkbar: Eine kritische Masse an Benutzern vorausgesetzt, könnten subjektive Bewertungen im Ergebnis eine emotionale Landkarte hervorbringen. Umgelegt auf die Crowdsourcing-Kampagne "Österreich aus der Luft" ließe sich zum Beispiel eine Reihung nach ästhetischen Gesichtspunkten realisieren. Gerade bei quantitativ großen Sammlungen eröffnet dies eine neue Dimension qualitativer Metainformationen.

Die stetige Weiterentwicklung der bestehenden Plattform, der laufende Austausch mit Benutzern sowie die Auswahl von weiteren Beständen für künftige Crowdsourcing-Kampagnen stellen zentrale Aufgaben dar. Mit dem Launch der Crowdsourcing-Plattform findet diese Initiative nun auch eine digitale Heimat, die das Portfolio der Österreichischen Nationalbibliothek um eine Facette reicher macht. (Paul Sommersguter, 15.11.2018)

Paul Sommersguter ist Projektmanager und User Experience Designer an der Österreichischen Nationalbibliothek, Abteilung für Forschung und Entwicklung. Für Konzeption, Gestaltung und Umsetzung sowie laufende Betreuung des Crowdsourcing-Portals verantwortlich ist neben ihm der Softwareentwickler Stefan Frühwirth (Abteilung für Forschung und Entwicklung).

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