Das räumliche Navigationssystem unseres Gehirns bestimmt vermutlich unser Denken.

Illustr.: Ella Maru Studio & MPI CBS, Doellerlab

Eines der fundamentalsten Rätsel der Neurowissenschaft lautet: Wie funktioniert das menschliche Denken? Seit Jahrzehnten haben sich Wissenschafter mit diesem Problem auseinandergesetzt, schlüssige Lösungen blieben jedoch bislang aus. Nun aber glaubt ein internationales Forscherteam, mögliche Antworten auf diese entscheidende Frage gefunden zu haben. Die Wissenschafter vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften kamen gemeinsam mit norwegischen Kollegen zu dem Schluss, dass das gleichsam eingebaute Navigationssystem unseres Gehirns die Basis unseres Denksystems bildet.

Wenn wir durch unsere Umgebung navigieren, sind zwei wichtige Zelltypen im Gehirn aktiv: Ortszellen im Hippocampus und Rasterzellen im benachbarten entorhinalen Kortex. Beide Nervenzelltypen bilden einen gemeinsamen Schaltkreis, der für die Orientierung und Navigation im Raum verantwortlich ist. Die Forscher um Christian Doeller stellten nun allerdings fest, dass unser inneres Navigationssystem offenbar bedeutend mehr zu leisten vermag als bisher vermutet. Das Team geht davon aus, dass dieses System den Schlüssel zum menschlichen Denkvermögen darstellt, hauptsächlich deshalb, weil unser gesammeltes Wissen anscheinend ebenso räumlich organisiert ist.

Mehrfach kodierte Umwelt

"Wir glauben, dass das Gehirn Informationen über unsere räumliche Umwelt in sogenannten kognitiven Räumen speichert. Diese betreffen nicht nur geografische Daten, sondern auch die Beziehungen zwischen Objekten und Erfahrungen", erklärt Doeller. Solche kognitiven Räume entsprechen mentalen Karten, in die wir unsere Erfahrungen einordnen. Alles, was wir im Alltag wahrnehmen, besitzt physische und gleichermaßen emotionale Eigenschaften, seien es Personen oder Objekte, und kann deshalb im Gehirn entlang entsprechender Merkmale abgespeichert werden. "Auf dieser Grundlage werden in unserem Zentralnervensystem auch unsere Familienmitglieder und Freunde kodiert: nach ihrer Körpergröße, nach ihrem Humor, ihrem Einkommen und vielen anderen Eigenschaften."

Grundlage dieser Annahmen sind zwei mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Entdeckungen aus den Jahren 1971 und 2005, die die Rolle der Orts- und Rasterzellen im Gehirn von Nagetieren nachweisen konnten. Die bei diesen Experimenten beobachteten räumlichen Aktivitätsmuster der Rasterzellen zeigen sich auch beim Menschen, und dies nicht nur, wenn er räumlich navigiert, sondern auch bei geistigen Aufgaben, wie schon eine 2016 veröffentlichte Studie zeigte. Bei dieser Untersuchung sollten die Teilnehmer anhand von unterschiedlichen Bildern und parallel dazu präsentierten Symbolen gedankliche Zusammenhänge herstellen.

Gedankliche Pfade

Die anschließenden Magnetresonanztomographien lieferten interessante Resultate: Der entorhinaler Kortex der Teilnehmer zeigte die gleichen Aktivitätsmuster wie beim Orientieren in einer echten Umgebung. "Wenn wir alle diese Erkenntnisse zusammenbringen, gehen wir nun davon aus, dass das Gehirn eine mentale Karte speichert, egal ob es sich um einen gedanklichen oder einen realen Raum handelt. Unsere Gedankengänge würden demnach wie Pfade durch einen Raum und entlang von geistigen Achsen verarbeitet werden", sagt Jacob Bellmund, Erstautor des Fachartikels im Fachjournal Science.

"Diese Prozesse dienen uns vermutlich insbesondere dazu, neue Objekte und Situationen zu erschließen, selbst wenn wir sie zuvor nie erlebt haben", meint der Neurowissenschafter. Mithilfe der bereits existierenden mentalen Karten könnten wir einschätzen, wie ähnlich Neues bereits Bekanntem ist, sodass wir es dann in Relation dazu entlang der existierenden Achsen einordnen können.

"Wir können so zu Generalisierungen gelangen, sodass wir in jeder neuen Situation, in der wir uns ja ständig befinden, letztlich abschätzen, wie wir uns zu verhalten haben", meint Bellmund. (tberg, 9.11.2018)