Der österreichische Großmeister Markus Ragger analysiert die zweite Partie der Schach-WM 2018.

Österreichischer Schachbund

Handshake, diesmal ohne womöglich fiese Fehleröffnung.

Foto: World Chess

London – Als alle noch an die 115 Züge des Vortages und Carlsens verpasste Siegchancen in Partie eins denken, überrascht der Weltmeister bereits zum zweiten Mal bei dieser WM: Magnus Carlsen eröffnet seine erste Weiß-Partie mit 1. d4, dem Doppelschritt des Damenbauern. Die meisten Experten hatten auf eine Königsbauerneröffnung getippt, weil Fabiano Caruana darauf zuletzt fast ausschließlich die symmetrische Russische Verteidigung angewandt hatte. Die gilt zwar als remisträchtig, zugleich aber schien sie ein ideales Ziel für die Vorbereitungsgiftküche des Carlsen'schen Sekundantenteams abzugeben.

Caruanas Neuerung

Ob Russisch in dieser WM noch eine entscheidende Rolle spielen wird, bleibt also abzuwarten, in dieser zweiten Partie heißt das Kampfgebiet Abgelehntes Damengambit. Dabei handelt es sich um eine der ältestgedienten Eröffnungen überhaupt, die meisten großen Spieler der Schachgeschichte hatten sie mit Weiß oder Schwarz, oder aber mit beiden Farben im Repertoire. Weiß bietet auf der c-Linie einen Bauern zum Fraß an, Schwarz lehnt ab, um das Zentrum nicht seinem Gegner zu überlassen. Was daraus folgt, ist ein gewisser weißer Raumvorteil, der den solide stehenden Schwarzen vor die Aufgabe stellt, sich nicht Stück für Stück zusammenschieben zu lassen.

Dass Caruana ebendas nicht vorhat, beweist er spätestens mit seinem zehnten Zug, 10. ... Td8!?. "Als ich den Zug auf dem Brett sah, dachte ich nur: 'Oh, shit", wird Magnus Carlsen später in der Pressekonferenz sagen und damit für allgemeine Heiterkeit sorgen. Dabei ist es nicht der Zug selbst, der dem Weltmeister in diesem Moment Kopfzerbrechen bereitet. 10. ...Td8 war bisher auf hohem Niveau in dieser Stellung nicht zu sehen gewesen, weil darauf die weiße Antwort 11. Sd2 als problematisch galt. Dass Caruana den Turmzug dennoch spielt, kann für Carlsen nur eines bedeuten: Sein Gegner hat im Vorfeld wichtige neue Erkenntnisse über die seltene Variante gewonnen, die vermutlich die Frucht vieler Stunden computergestützter Analyse sind.

Carlsens Zwiespalt

Das bringt Carlsen in ein Dilemma, das ihn an diesem Tag schon in der Eröffnung einen Gutteil seiner Bedenkzeitreserven kostet: Soll der Weltmeister auf Vorteil spielen, wie es mit Weiß gewissermaßen moralische Pflicht ist, obwohl er damit Gefahr läuft, mitten in die Analyse des Teams Caruana zu rennen? Oder soll er möglichst rasch in ein Nebengleis abbiegen und damit riskieren, seine erste Weißpartie im Match rasch verflachen zu lassen?

Ganz der Pragmatiker, der Carlsen nun einmal ist, entscheidet er sich für den zweiten Weg. Zumindest für diese Partie geht er der prinzipiellen eröffnungstheoretischen Auseinandersetzung aus dem Weg und versucht stattdessen, mit einfachen Zügen ein gewisses Maß an Druck gegen die schwarze Stellung zu bewahren.

Flucht ins Endspiel

Caruana jedoch zeigt sich auch auf dem von Carlsen mit 11. Le2 und 14. a4 eingeschlagenen Pfad bestens präpariert. In auffälligem Kontrast zur ersten Partie verbraucht der Herausforderer bis tief ins Mittelspiel kaum Bedenkzeit und fühlt sich in der entstehenden Stellung sichtlich wohl. Caruana zieht erst seinen Springer, dann seinen Läufer zurück – und plötzlich ist von weißer Initiative in dieser Partie keine Rede mehr. Das sieht auch der Weltmeister so, der folgerichtig die Notbremse zieht: Bevor er in ernsthafte Probleme gerät, wickelt der Weltmeister in ein Endspiel ab, in dem er zwar einen Minusbauern und die schlechtere Bauerstruktur zu beklagen hat. Da aber außer Königen und Bauern nur Türme am Brett verblieben sind und sich die Bauern allesamt auf dem Königsflügel befinden, schwebt Weiß niemals in ernsthafter Verlustgefahr.

Fabiano Caruana verzichtet in der Folge darauf, sich beim Weltmeister für die Tantalos-Qualen zu revanchieren, die dieser ihm in einem ebenfalls nicht gewinnbaren Turmendspiel am Vortag einige Stunden lang bereitet hatte. Nachdem Carlsens Doppelbauer abgetauscht ist, werden rasch die Hände geschüttelt, das zweite Remis in der zweiten Partie dieser WM ist damit unterschriftsreif.

Psychologische Kriegsführung

Da die zweite Partie abgesehen von ihrer Eröffnungsphase nicht allzu viel heißen Gesprächsstoff liefert, brodelt im verregneten London stattdessen die Gerüchteküche. Dass Hollywood-Star Woody Harrelson Caruanas König bei der symbolischen Ausführung des ersten Zuges in Partie eins absichtlich straucheln hatte lassen, war bereits am Vorabend durchgesickert. Dass Harrelson aber im Vorfeld der WM in Magnus Carlsens Vorbereitungscamp gesichtet worden sein soll, verleiht der scheinbar belanglosen Episode den Anstrich psychologischer Kriegsführung auf Seiten des norwegischen Teams.

Freilich handelt es sich dabei zum jetzigen Zeitpunkt lediglich um Hörensagen. Sollte sich die Anekdote allerdings bewahrheiten, wäre die Geschichte der Schachweltmeisterschaften nach der Untersuchung des Mobiliars mit Röntgenstrahlen (Fischer vs. Spasskij) und dem Einsatz von Parapsychologen (Karpow vs. Kortschnoj 1978) um eine merkwürdige Episode reicher.

Fakt ist, dass es nach einem turbulenten und einem ruhigen Remis nunmehr 1:1 steht. Am Sonntag wird geruht, am Montag führt Fabiano Caruana dann in Partie drei wieder die weißen Steine. (Anatol Vitouch aus London, 10.11.2018)