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Manche unterrichten seit Jahrzehnten an Brennpunktschulen und hatten noch nie mit Gewalt zu tun. Andere sind an Privatschulen und wissen nicht, wie sie mit harten Mobbingfällen umgehen sollen. DER STANDARD hat mit über zehn Lehrern über ihre Erfahrungen mit Gewalt an der Schule gesprochen. Aus Angst vor Konsequenzen wollen sie ihre Namen nicht in der Zeitung lesen. Fünf von ihnen sollen daher anonym zu Wort kommen.

Zum ersten Mal wurde vor kurzem die Zahl der Anzeigen wegen Gewaltdelikten an Wiener Schulen erhoben: 258 gab es davon im letzten Schuljahr – die meisten davon wegen Körperverletzung. Mangels Vergleichszahlen lässt sich keine Entwicklung daraus ablesen. Insgesamt werden derzeit gut 230.000 Schüler unterrichtet.

"Man darf nicht die Kinder zu Tätern und die Lehrer zu Opfern stilisieren." Ercan Nik Nafs, Kinder- und Jugendanwalt

Woraus aber Schlüsse gezogen werden können, ist der Langzeitvergleich der Tatverdächtigen nach Alter bei Körperverletzungsdelikten: Die Zahl sinkt, und zwar in allen Altersgruppen, während die Aufklärungsquote steigt, sie also eher ausgeforscht werden.

Nur wenige der Lehrer, mit denen DER STANDARD gesprochen hat, berichteten von Anzeigen, auch wenn einige Gewalt erlebt oder gesehen haben. Sorge um den Ruf der Schule und die Zukunft des Kindes stehen dem im Weg. "Eine Anzeige macht jedenfalls Sinn", heißt es aus dem Büro des Wiener Bildungsdirektors Heinrich Himmer (SPÖ), "wenn es zu Gewaltdelikten kommt, ist niemandem geholfen, wenn kein Prozedere ausgelöst wird."

ÖVP-Polizeisprecher Karl Mahrer will indes eine Einführung von Mindeststrafen bei Gewaltdelikten gegen Lehrer diskutieren, betont aber auch die Notwendigkeit von Präventionsmaßnahmen.

Die Polizei könne nicht Dinge lösen, für die psychologische und pädagogische Arbeit notwendig sei, meint der Kinder- und Jugendanwalt Ercan Nik Nafs. "Man darf nicht die Kinder zu Tätern und die Lehrer zu Opfern stilisieren." Was es brauche, seien Weiterbildungen für Lehrer und kleinere Klassen. Und: Um Gewalt zu verhindern, müsse das gewaltfreie Heranwachsen ermöglicht werden.

1. Man sieht es kommen

Manchmal sieht man es schon brodeln, das wäre der Moment, wo man einen Mediator bräuchte oder einen Beratungslehrer, doch die Ressourcen sind einfach nicht da. Aber zu Anzeigen kommt es kaum. Man will Schule und Schüler nicht an den Pranger stellen. Wenn die 14 sind, überlegt man sich zweimal, ob man ihnen die Zukunft verbauen will. Also wartet man immer, bis etwas passiert. Man schätzt ab: Geht das noch? Geht das nicht mehr? Kann ich ihn anderen noch zumuten? Kann er sich bessern?

Einen Schüler, der eine Pistole zum Wandertag mithatte, hab' ich nicht angezeigt. Als ich zu ihm gesagt hab': "Zeig mir deinen Rucksack", hatte ich butterweiche Knie. Das war eigentlich ein netter Bursche. Ich vertraue meiner Menschenkenntnis und bin sicher, dass der das nie wieder gemacht hat. Und die Munition hatte er getrennt gehabt. Als ich zurück in die Schule kam, ging ich zum Direktor. Er öffnete eine Schublade voller Waffen – Schlagringe, alles Mögliche – und sagte: "Hau's zu den anderen."

Doch man darf nicht den Fehler machen, die Ursache für Gewalt in nur einem Aspekt zu suchen. Es ist mir ein Anliegen, dass wir aus diesem Frust, den wir Lehrer haben, nicht nur ein Sudern und Schlechtreden machen, sondern dass wir sagen: Okay, jetzt haben wir das besprochen, und jetzt müssen wir was tun.

2. Frustabbau mit Fäusten

Manche unserer Kinder haben Eltern, die Bücher schreiben, andere sind in den typischen "Gemeindebaufamilien". Die, die immer wieder hinhauen, die Konflikte und Sozialprobleme haben, kommen aus allen sozialen Schichten. Dass es bei 900 Schülern zu Problemen kommt, ist klar.

Wir haben zwar eine Schulpsychologin, die kommt alle zwei Wochen für vier Stunden, aber das ist lächerlich. Da muss man schon Glück haben, dass die da ist, wenn akut etwas ist. So werden Lehrer dazu gezwungen, Dinge zu tun, die nicht ihr Job sind. Wenn ein Schüler selbstmordgefährdet ist, bin ich als Lehrerin die erste Ansprechpartnerin. Ich bin keine Therapeutin. Wer weiß, ob ich richtig reagiere?

Doch was wir haben, ist ein Peer-Mediationsprogramm. Das heißt, vier meiner Kollegen haben eine spezielle Ausbildung und bilden selbst wiederum Jugendliche aus der fünften, sechsten und siebenten Klasse aus. Wenn es zu einem Konflikt kommt, dann können die Beteiligten sich an die Peer-Mediatoren wenden. Wenn es Streit gibt oder Mobbing, dann haben die Jungen bei den Älteren Ansprechpersonen.

Gerade bei den Kleinen, bei den Zehn- bis 14-Jährigen, ist es oft so, dass ein verbaler und ein physischer Konflikt Hand in Hand gehen, weil sie für sich gelernt haben, Frust so abzubauen. Und manche der Peers habe früher selbst hingehaut.

3. Festhalten gibt Sicherheit

Ich bin als Beratungslehrer in Volksschulen tätig. Meine Unterstützung wird angefordert, wenn in einer Klasse durch verbal und physisch gewalttätiges Verhalten das Unterrichtsgeschehen in hohem Maß gestört wird. Ich arbeite mit den auffälligen Kindern, den Lehrkräften, Eltern, dem Jugendamt und betreuenden Ärzten. Ich versuche zu vermeiden, dass ein Kind stigmatisiert wird. Oder dass es von der Schule verwiesen oder in eine Sondererziehungsschule abgeschoben wird.

Ich arbeite nach dem Prinzip der "Neuen Autorität" nach dem Psychologen Haim Omer: Die Führungsverantwortung der pädagogisch Tätigen wird anerkannt, jedoch soll dem Kind nicht unter Androhung von Strafe Angst bereitet werden, sondern es soll zum Verständnis über nachvollziehbare Konsequenzen gelangen.

Manchmal kommt es vor, dass ich ein Kind festhalte, um andere und es vor sich selbst zu schützen. Sofern ich die Einwilligung der Eltern habe, suche ich mir dann einen ruhigen Platz und verharre mit dem Kind längere Zeit – das kann vierzig Minuten sein –, bis es sich völlig beruhigt hat. Im günstigen Fall gibt meine Präsenz dem Kind den zu Hause vermissten Halt oder ein Stück Geborgenheit. Nicht verurteilt zu werden und stattdessen Aufmerksamkeit zu bekommen widerspricht den erfahrenen Mustern und kann entspannend, sogar heilsam wirken.

4. Schimpfen in 15 Sprachen

Suspendierungen sind ungewöhnlich, die letzte Maßnahme. Anfang des Schuljahres ist etwas Gröberes passiert, eine Schlägerei, bei der ein Schüler einer anderen Schule ins Spital musste, da wurden drei unserer Schüler suspendiert. Man fragt sich dann, ob es wirklich besser ist, wenn man das Kind nach Hause schickt.

Ich denke, zu Gewalt kommt es meist aus zwei Gründen: sprachlicher Unsicherheit – wenn man in einer Sprache beschimpft wird, die man nicht versteht, fliegt die Faust schneller, als man nachdenkt – und niedrigem Selbstbewusstsein. Die sagen sich: "Ich bin so dumm, ich kann das nicht", und dann hauen sie alles weg. Da ist ein Riesenfrustrationslevel.

Solange meine Kinder bei mir sind, versuche ich so viele Maßnahmen wie möglich zu ergreifen. Ich empfehle die Nachhilfe, die offene Nachmittagsschule, versuche alles abzuklappern, was geht. Den Lehrstoff bekommt man zwar niemals durch, aber das halte ich nicht für so wichtig. Was ich mache, ist viel Sozialarbeit.

Und ich mag die Diversität bei uns. Wenn wir einen kulturellen Tag machen, bringt jeder was zu essen mit, dann sieht man diesen Tisch und sagt: "Wow, 15 Nationalitäten." Man beginnt das Positive zu sehen, anstatt sich darauf zu stürzen, ob sie alle Satzglieder richtig bestimmen können. Und schimpfen können sie auch in 15 Sprachen.

5. Stempel der Inklusion

Früher wurden Verhaltensauffälligkeiten durch die Unterbringung in der Sonderschule aufgefangen, jetzt steht das unter dem Begriff "Inklusion". Aber es kann nicht sein, dass man Lehrer mit 25 Kindern mit verschiedensten Bedürfnissen in eine Klasse sperrt und "Inklusion" drüberschreibt. Es wäre wichtig, dass geschulte Leute kommen, anstatt uns alles überzustülpen und zu sagen: "Jetzt machts noch ein bisserl Psychohygiene und ein bisserl Sozialarbeit", dafür braucht es die richtige Ausbildung und Distanz.

In die Tiefe gehen bei einem Kind mit Traumaverdacht lasse ich lieber sein. Ich weiß bei zwei meiner Kinder nicht, ob es einen Papa gibt, und trau' mich nicht, das anzusprechen. Die haben teilweise gesehen, wie ihre Eltern erschossen wurden. Da gibt's Situationen, wo ich denke: Warum flippt der derartig aus? Da war dann wohl irgendein Reiz, den ich nicht nachvollziehen kann.

Wenn es zu Gewalt kommt, sind Konsequenz und Sanktionen wichtig. Wer jemandem wehtut, bekommt dann mal keine Springschnur oder keine Umarmung. Ich weiß, das tut ihm weh. Mir auch. Aber je früher sie lernen, dass sie sich auf ihre Eltern oft nicht verlassen können, desto leichter werden sie einmal zurechtkommen und vielleicht nicht ohne Arbeit zu Hause sitzen wie viele der Eltern. Das ist hart für so kleine Zwerge. Sie leisten enorm viel.

(Gespräche: Gabriele Scherndl, Grafiken: Michael Matzenberger, 24.11.2018/ Credit Titelfoto: Imago)