Spitzenkandidat Frans Timmermans muss angesichts der prognostizierten Verluste für seine sozialdemokratische Fraktion trüben Blickes in die Zukunft schauen.

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Nach der Nominierung des EVP-Fraktionschefs Manfred Weber und des EU-Kommissars Frans Timmermans als Spitzenkandidaten von Europas Christdemokraten und Sozialdemokraten (S&D) nimmt der Wahlkampf für die Europawahl im Mai 2019 Fahrt auf.

Die deutschen Grünen haben die Fraktionschefin im Europäischen Parlament, Ska Keller, als Nummer eins auf der nationalen Liste aufgestellt. Sie soll als Spitzenkandidatin der Eurogrünen auch ins Rennen um die Nachfolge von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker einsteigen. Dieses wird spannend. Einer Studie des Jacques-Delors-Instituts Berlin zufolge zeichnen sich markante Verschiebungen im Kräfteverhältnis der Fraktionen ab, laut Studienautor Valentin Kreilinger mit direkten Folgen für Zusammensetzung und Programm der EU-Kommission.

Schwierige Vorhersage

Die Prognose ist komplex, weil sie den EU-Austritt Großbritanniens im März 2019 einbezieht. Derzeit hat das Parlament 751 Abgeordnete. Nicht alle 73 britischen Mandate werden gestrichen: 27 davon werden auf 14 der 27 anderen EU-Staaten aufgeteilt. Im nächsten Plenum werden also noch 705 Abgeordnete sein.

Allein dieser Effekt bringt deutliche Machtverschiebungen. Da die konservativen Tories 2009 aus der EVP ausgestiegen sind und seither mit den polnischen Nationalkonservativen (PiS) eine eigene Fraktion (EKR) mit 73 Mandaten bilden, verliert die EVP als stärkste Fraktion (derzeit 219 Sitze) durch den Brexit nichts. Ganz anders die Sozialdemokraten, mit 187 Sitzen zweitstärkste Fraktion: Durch den Brexit büßt die S&D-Fraktion ihre 20 Labour-Mandate ein, mehr als zehn Prozent. Die Gesamtprognose fällt auf Basis aktueller Umfragen noch schlechter aus.

Denn die Sozialdemokraten sind auch in den anderen großen und somit mandatsstarken Ländern Frankreich, Italien und Deutschland schwach. Fänden diese Woche EU-Wahlen statt, würde die S&D auf 137 Mandate abstürzen, bei 19,3 Prozent Stimmanteil (2014: 25,2 Prozent).

Chaosfaktor Brexit

Auch die EVP verlöre, aber weniger stark, käme auf nur noch 178 Sitze. Die Christdemokraten blieben damit stärkste Fraktion (26 statt 29,2 Prozent im Jahr 2014).

Das hieße, dass EVP und S&D erstmals seit 1979, der ersten EU-Direktwahl, gemeinsam die Mehrheit im Parlament verlören, zur Wahl der Kommission also auf einen Pakt mit einer dritten Fraktion angewiesen wären. Dafür kämen vermutlich die Liberalen (Alde) infrage, die laut Prognosen von 68 auf 98 Abgeordnete anwachsen könnten – sofern sie sich mit den Bewegungen "En Marche" von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und den spanischen Ciudanados zusammentun.

Leicht dazugewinnen dürfte die Linksfraktion (GUE, 58 Sitze), die damit rechnen kann, dass italienische Abgeordnete der Fünf-Sterne-Bewegung (die bisher bei der Fraktion des EU-Skeptikers Nigel Farage waren) sich ihr anschließen. Für die Grünen sieht es – trotz des derzeitigen Höhenfluges in Deutschland – trübe aus: Sie kämen auf 35 statt 52 Sitze.

Bleibt die Frage, wie Europas Rechtspopulisten und EU-Skeptiker abschneiden. Sie wären neben den Liberalen die Zugewinner, aber politisch ohne entscheidenden Einfluss. Die Fraktion des EU-Skeptikers Nigel Farage erübrigt sich mit dem Brexit, eine Neuformierung des rechten Lagers steht an. Laut Prognose könnte sich die von der damaligen Front National-Chefin Marine Le Pen gegründete ENF-Fraktion von 34 auf 70 Sitze verdoppeln. Ihr gehören die FPÖ und die Lega von Italiens Vizepremier Matteo Salvini an. Am meisten Mandatszugewinne dürfte die AfD in Deutschland bringen (16).

Rechte Riesenfraktion?

Da Tories ausscheiden, stellt sich die Frage, was mit den Resten der EKR-Fraktion geschieht, in der dann die polnischen Nationalkonservativen von PiS das Sagen hätten. Die radikal Rechten von ENF hoffen, dass diese sich ihnen anschließen, wie auch Viktor Orbáns Fidesz mit 14 Abgeordneten, die in der EVP-Fraktion sind.

Eine große Rechtsfraktion solle laut ENF entstehen, stärker als die Liberalen, wenn auch Splittergruppen sich anschließen. Die Liberalen sorgten Freitag bei einem Kongress in Madrid für eine Überraschung. Entgegen der Beschlusslage der Alde wollen sie keinen gemeinsamen EU-Spitzenkandidaten aufstellen, da Macron das ablehnt. (Thomas Mayer aus Brüssel, 12.11.2018)