Zeiten großer Umbrüche und wichtiger Weichenstellungen werden häufig erst lange im Nachhinein als solche erkannt. Auf analytischer Ebene ist der Abstand notwendig, um relevante Ereignisse und Diskurse von Nebenschauplätzen zu unterscheiden. Heute wissen wir allerdings, dass die Zeitspanne von etwa 2020 bis 2050 eine besondere in der modernen österreichischen Geschichte darstellte. Denn in diesen Jahrzehnten wurde die Hegemonie einer lebensfeindlichen, revisionistischen Gesellschaftsordnung gebrochen. Es waren die Jahrzehnte, in denen der progressive Umschwung gelang, viele Errungenschaften erkämpft und unsere heutigen Leitbilder proklamiert wurden: Fürsorge für Mensch und Natur, solidarische Selbstorganisation und radikale Teilhabe.

Wie komme ich zu diesem Schluss, und was waren die Treiber dieses Wandels? Reduziert auf drei Punkte: die Durchsetzung einer lebensfreundlichen Zeitverfügung, der Aufbau einer radikal inklusiven Demokratie und die völkerrechtliche Primärmaxime der Naturerhaltung.

Foto: https://www.istockphoto.com/at/portfolio/sonya_illustration

Mehr Zeit für Fürsorge

1. Die Herausbildung unserer modernen Zeitverfügung war zweifellos ein Herzstück des Wandels. Den Grundstein lieferten vor allem Theorien feministischer Ökonominnen und Ökonomen. Sie waren es, die bereits im 20. Jahrhundert auf die systemische Fehlerhaftigkeit der damals gängigen Wirtschaftstheorien hinwiesen, welche die Fragen der Sorgearbeit und Versorgungswirtschaft vollkommen ausklammerten beziehungsweise als unterbezahlte Lohnarbeit – meist von Frauen geleistet – unter den reinen Effizienzgedanken einer kapitalistischen Wirtschaftsweise stellten.

Was nun in den 2020er-Jahren passierte, war, dass die erstarkenden feministischen Bewegungen – im Schulterschluss mit einer neuen Generation gewerkschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Akteurinnen und Akteure – diese Zeitlogik, die im Widerspruch zu einem zukunftsfähigen und gleichberechtigen Leben stand, aufkündigten. Viele harte Auseinandersetzungen rund um eine Erwerbsarbeitszeitverkürzung, aber vor allem zur gesellschaftlichen Aufwertung der fürsorgenden Arbeit für die Gemeinschaft für den Menschen selber und für die Natur erhielten zunehmend die Unterstützung der breiten Bevölkerung.

Anstatt auf die Steuerung einer in den 2020er-Jahren rein revisionistischen Politik zu warten, startete diese breite Allianz mit dem Slogan "Mehr Zeit für Fürsorge" eine bahnbrechende Kampagne – die auch heute noch ihresgleichen sucht. Im Sog des digitalen Wandels verkürzten immer mehr Menschen ihre Erwerbsarbeit. Zahlen der Statistik Austria aus dem Jahr 2052 zeigen, dass die durchschnittliche Erwerbsarbeitszeit von Männern im Vergleich zu 2022 von 41 auf 18 Wochenstunden fiel. Frauen und Männer engagierten sich nun gleichberechtigt in der fürsorgenden Arbeit, und für niedrige und mittlere Einkommen wurde ein Solidaritätsfonds aufgebaut, um ein gutes Leben für alle zu sichern. Kollektivvertragliche Löhne in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Pflege stiegen im Durchschnitt um 67 Prozent an. Fürsorge als gesellschaftliche Arbeit erfuhr eine nie gekannte Aufwertung. Die nun für alle freiwerdende Zeit floss aber auch in die Muße und Mitgestaltung gesellschaftspolitischer Anliegen.

Arbeitslose im Gemeinderat

2. Die revisionistische Politik am Anfang dieser zentralen Dekaden wurde bereits angeschnitten. Die 2020er-Jahre brachten eine zunehmende Machtzentrierung rechtskonservativer Parteien und die systematische Aushungerung zivilgesellschaftlicher Strukturen. Die Vorboten waren die massiven Kürzungen frauenpolitischer Vereine in den späten 2010er-Jahren. Trotz der durchaus gegebenen demokratischen Legitimierung (nach damaligen Standards) geriet das politische System in den 2020er-Jahren zunehmend in eine – wie wir sie heute nennen – "doppelte Legitimationskrise". Eine immer größere Anzahl an Menschen – in Städten wie Wien bereits über ein Drittel der Bevölkerung – war aufgrund des damaligen "Staatsbürgerschaftsprinzips" von Wahlen ausgeschlossen. Gleichzeitig wurde immer deutlicher, dass viele benachteiligte Gruppen, etwa langzeitarbeitslose, chronisch kranke oder alleinerziehende Menschen de facto keine oder nur sehr geringe politische Repräsentation fanden.

Da nun aber Zeit, Existenzsicherung und Muße vorhanden waren, um sich gesellschaftspolitisch zu engagieren, entstanden allerorts neue zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse. Hier sind Frauenvereine, Lebensmittelkooperativen, Gemeinwohlbanken, Wohnprojekte, Reparaturkreise, Kulturvereine, Selbstvertretungsgruppen, LGBTIQ-Gruppen, Migrantinnen- und Migratenvereine und viele andere hunderttausende Initiativen zu nennen. Sie verstanden sich zunehmend als zusammenhängende, transformierende Kräfte und experimentierten mit neuen Teilhabe- und Organisationsformen.

So wurde in den frühen 2030er-Jahren eine Idee aus Frankreich übernommen, die schon bald großen Zuspruch fand und die Qualität politischer Maßnahmen stark verbesserte. Mit dem Aufruf "Eine arbeitslose Person in jedem Gemeinderat" wurde exemplarisch die Marginalisierung großer Bevölkerungsteile sowie ihrer Anliegen aus der politischen Repräsentation schrittweise abgebaut. Anfangs noch städtisch-elitär, entwickelten diese neu geformten Bürgerinnen- und Bürgerräte ein hohes Maß an "Teilhabebewusstsein" und etablierten sich in Gemeinden, Betrieben und Schulen. So wurden sie nach und nach jene Orte, wo die Vertiefung der Demokratie als Handeln von allen verstanden sowie Selbstorganisation, Solidarität, Antirassismus und Vielfalt im Kleinen geübt werden konnten.

All jene, die auf ein spezifisches, revolutionäres Datum hoffen, muss ich enttäuschen. Der Aufbau unserer radikal inklusiven Demokratie moderner Ausprägung war ein jahrhundertelanger Prozess, der zwischendurch immer wieder ins Stocken geriet, in den Jahren 2020 bis 2050 durch die doppelte Legitimationskrise und die moderne Zeitverfügung jedoch einen neuen Schub erhielt.

Neue Aufklärung

3. Zuletzt das wohl schmerzlichste Kapitel, weil es erst die multiplen klimatischen Katastrophen der 2040er-Jahre und die vielen Millionen Toten waren, die eine neue Aufklärung in Gang setzten und das erreichten, was für uns moderne Menschen heute höchste völkerrechtliche und alltagsanleitende Maxime ist: Jede gesellschaftliche, politische oder wirtschaftliche Handlung muss am Erhalt oder der Erneuerung unserer natürlichen Ressourcen ausgerichtet sein. Diese Einsicht war, das wissen wir heute, der finale Todesstoß für die damalige lebensfeindliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Denn sie entmachtete die nationalstaatlichen Konstrukte von einer auf Legislaturperioden ausgerichteten, kurzfristigen Klimapolitik und stellte an deren Stelle einen supranationalen Plan, der den Erhalt der natürlichen Ressourcen als Primärmaxime definierte.

Profitberechnungen ohne die Einbeziehung natürlicher Ressourcen oder Handels- und Landwirtschaftspolitiken, die Lebensgrundlagen in anderen Erdteilen zerstören; das sind alles altertümliche Handlungsweisen, die für uns heute denkunmöglich sind. Gemeinsam mit der neu erkämpften Zeitverfügung und den radikal inklusiven Strukturen unserer modernen Demokratie wurde der progressive Wandel in diesen kritischen Dekaden auf den Weg gebracht. Unser Dank muss die stetige Weiterentwicklung und selbstkritische Reflexion dieser Errungenschaften sein. (Schifteh Hashemi, 12.11.2018)