Filme, die von rückwärts nach vorn blicken: "Der Funktionär" von Andreas Goldstein und ...

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... Regina Schillings "Kulenkampffs Schuhe" arbeiten sich an Archivbildern ab.

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Der Leiter der Filmwoche, Werner Ružička, bei der Diskussion.

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Zu Hochzeiten hatte Einer wird gewinnen, die große Samstagabendshow von Hans-Joachim Kulenkampff, die sagenhafte Quote von 90 Prozent. Ein anschaulicher Beleg dafür, warum der Philosoph Günther Anders das Fernsehen dieser Zeit einmal als den "negativen Familientisch" bezeichnet hat.

Bei der Filmemacherin Regina Schilling war es zu Hause nicht anders. Man versammelte sich vor dem TV-Gerät, jedes Mitglied auf seinem angestammten Platz. Ablenkung und Zerstreuung für Zeiten, in denen Effizienzfieber und Verdrängung grassierten. Das Sedativum wirkte gleichwohl unterschiedlich gut. Der Vater, ein Drogist, starb mit 48 Jahren früh – zermürbt von einem Arbeitsleben, das den ersehnten sozialen Aufstieg nur um den Preis der Verschuldung brachte.

Kulenkampffs Schuhe ist ein Filmessay, der mit Archivbildern arbeitet. Die Familienbilder der Schillings gehen mit Ausschnitten aus Sendungen Kulenkampffs und zweier anderer beliebter Showmaster, Hans Rosenthal und Peter Alexander, eine Korrespondenz ein. Drei Männer im selben Alter wie der Vater der Filmemacherin, deren Biografien durch den Zweiten Weltkrieg mitgeformt wurden.

Zur Sprache kam das nie: nicht innerhalb der Familie, nicht in den Shows – höchstens in kurzen Rissen, in denen das Bodenlose kurz aufscheint. Schilling hält den Fluss an und fügt den Bildern den Kontext, den Personen ihre Geschichte wieder hinzu. Bei Rosenthal, der als Jude im Untergrund von Berlin überlebt hatte, werden in der Show einmal Scherben wieder wie durch Magie zusammengeklebt.

Am Samstag wurde Kulenkampffs Schuhe bei der Duisburger Filmwoche mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet. Die Jury klagte bei ihrer Laudatio ein, den Zugang zu den Archiven des Fernsehens zu erleichtern, da dieser gegenwärtig mit hohen finanziellen Auflagen verbunden ist. Ein wichtiger Hinweis – nicht nur, weil es neben Schillings klugem Film über das Ungesagte im Unterhaltungsprogramm noch weitere spannende Archivfilme zu sehen gab.

Wie es gelingt, mittels Archiven eine Perspektive auf die Gegenwart zu eröffnen, zeigen etwa auch Ruth Beckermanns Waldheims Walzer und Der Funktionär von Andreas Goldstein. Beide Filme erzählen von ideologischen Verformungen, in beiden geht es auch um eine Form der Verleugnung. Bei Goldstein wird die Spurensuche noch um einen persönlichen Aspekt bereichert. Klaus Gysi, der ehemalige Kulturminister der DDR, ist sein eigener Vater. Ein Vater, der wie der Staat, dem er diente, im Nebel der Geschichte verschwand.

Nebel der Geschichte

Werner Ružička, der Leiter der Filmwoche, bringt im STANDARD-Gespräch das Bild von Walter Benjamins Engel der Geschichte ins Spiel, der sein Antlitz der Vergangenheit zuwendet: "Die Menge an Material und Bildern wird zwar immer größer, doch den Filmen von Schilling oder Beckermann gelingt es eindrucksvoll, den Nebel fortzublasen. Sie schaffen in der Montage eine alternative mediale Form, mit der sie Wirklichkeit vermitteln – und zwar so, dass man sie tatsächlich begreifen kann." Solche Filme lieferten sogar einen Ansatz dafür, wie sich der Wiederholungszwang der Politik vermeiden ließe.

Ružička, der die Geschicke des diskursintensiven Festivals über 33 Jahre hinweg geleitet hat, wechselt nach dieser Ausgabe in den Ruhestand. Man darf hier ausnahmsweise vom Ende einer Ära sprechen: Denn anders als auf größeren Doku-Festivals, bei denen in den letzten Jahrzehnten vor allem der Marktbereich anwuchs, blieb in Duisburg der Fokus auf Austausch und Auseinandersetzung. Nach jeder Vorführung gibt es ausgiebige Debatten, die in meist launig verfassten Protokollen festgehalten werden – mithin ein weiteres Archiv bilden.

"Wir haben gesagt: Wir sind kein Markt, sondern ein Distinktionsforum", so Ružička. "Hier werden Filme zu Gedanken und nicht zu Geld." Argumente, man sei zu intellektuell und theorielastig – "Das sind ja Spinner etc." –, habe man mit Erfolg überwunden. "Wir haben diesen Begriff der Schule des Sehens, der ein wenig das schlechte Parfum des Pädagogischen verströmt, nie abgelegt. Und es war ein schönes Gefühl zu sehen, dass es einen Nachwuchs gab, dem an der Intonation von Harun und Hartmut etwas lag."

Gemeint sind Harun Farocki und Hartmut Bitomsky, die mit der Zeitschrift Filmkritik und ihren essayistisch orientierten Filmen stark zum Profil der Filmwoche beigetragen haben. Farocki schrieb schon zum 30-Jahr-Jubi läum des Festivals einen pointiert (selbst-)ironischen Text (wiederabgedruckt in dem gerade erschienenen Buch Duisburg Düsterburg), in dem er für diese Klassenfahrt der armen Zunft der Dokumentaristen das schöne Bild des Flohzirkusses findet: "eine Trotz-allem-Festlichkeit."

Verhärtung der Gegenwart

Zur Stammmannschaft Duisburgs gehören freilich auch in der DDR sozialisierte Autoren wie Thomas Heise, Volker Koepp oder Gerd Kroske, der dieses Jahr mit seinem Film über einen Zweig der Antipsychiatriebewegung, SPK Komplex, teilgenommen hat. Nach der Wende erweiterten Schweizer und österreichische Dokumen taristen das Feld. Ružička: "Man musste dem Germanozentrismus etwas entgegenhalten."

In Duisburg diskutiert: Marie Wilkes Film "Aggregat".
FilmFestSpezial Arthouse-Filmmagazin

Die Verhärtungen der politischen Gegenwart sind bei der Filmwoche seit jeher Gegenstand engagierter Debatten. Dieses Jahr lieferte etwa Marie Wilkes Film Aggregat Anschauungsmaterial. Nüchtern und ohne Kommentar blickt sie auf die Arbeit von Politikern, die sich den diffusen, aber auch gut begründeten Sorgen der Bürger stellen. Und beobachtet, wie Medien ihr jeweiliges Framing der Realität betreiben. Wilke wollte wissen, wie es um die Demokratie bestellt ist. Ihre Szenen sind bewusst ausschnitthaft gewählt, zwischen die Bilder setzt sie Schwarzblenden. Der Film ist wie ein Mosaik gebaut, das dem Publikum viel Raum überlässt, die Teile zusammenzusetzen.

Diskutiert wurde Aggregat nicht ohne Widerspruch. Dass die Form auch eine Art Evidenz für Gräben erzeugt, war eine der Befürchtungen. Dabei gab es Filme, die in ihrem Vertrauen auf das Wahrnehmbare in digitalen Bildern noch weiter gingen – Daniel Zimmermanns Walden zeichnet eine Route der Globalisierung in 360-Grad-Schwenks. Nachbarn von Pary El-Qalqili und Christiane Schmidt zeigt Zonen rund um Lager von Geflüchteten, die jede Begegnung auszuhungern scheinen.

Ružička spricht bei dieser Gelegenheit vom Potenzial des digitalen Bildes, das schon durch seine Schärfe neue Tiefen erschließt. "Es ermöglicht eine Versenkung, ein Eintauchen, von dem wir uns noch zu wenig Vorstellungen machen." Ein Blick nach vorn, der beweist, dass das Dokumentarische eben auch begrifflicher Nachbetreuung bedarf. Wünschenswerterweise auch bei der Duisburger Filmwoche, deren weitere Zukunft noch unklar ist. (Dominik Kamalzadeh, 13.11.2018)