Die bunten Häuser der Insel Burano sind heute vor allem Kulisse für Instagram- taugliche Selfies.

Foto: Istock/StevanZZ

Auf der Insel Torcello befand sich eine der ersten Siedlungen in der Lagune von Venedig. Ihre Kirchen zählen zu den ältesten Gebäuden der Stadt und bergen Kunstschätze ...

Foto: Sascha Rettig

... wie ein Mosaik mit dem Thema des Jüngsten Gerichtes aus dem 12. Jahrhundert.

Foto: Istock/Rimbalzino

In einem privaten Garten auf der Insel wurde die verloren geglaubte Dorona-Traube wiederentdeckt.

Foto: Istock/taratata

Heute gibt es wieder 4.000 Reben rund um einen schiefen Campanile.

Foto: Sascha Rettig

Torcello, eine der ältesten Siedlungen Venedigs, hatte einst mehr als 20.000 Einwohner. Heute sind es neun. Touristen kommen dennoch täglich auf die kleine Insel, die nur ein paar Kanäle von Burano entfernt in der nördlichen Lagune liegt. Das zunehmend verwaiste Eiland verfügt nämlich über eine besondere Attraktion: Die Basilika Santa Maria Assunta stammt aus dem 7. Jahrhundert und gilt als das älteste Gebäude Venedigs.

Doch hier verbirgt sich noch ein weiterer Schatz, von dem die Touristen nichts ahnen: drei kleine Reben im Garten von Nicoletta Emmer. "Ich wollte sie schon ausreißen", erinnert sich die Dame, die bis heute auf der Insel in einem Idyll aus alten Mauern und Laubengängen lebt. Dass sie es sich doch noch anders überlegt hat, liegt an Gianluca Bisol, der Torcello vor einigen Jahren zufällig besuchte. Der Unternehmer, der früher hauptsächlich Prosecco auf dem Festland produzierte, konnte nicht glauben, was er im Garten von Emmer sah: Wein aus Venedig.

Er forschte nach und fand heraus, dass es sich um Dorona-Trauben handelte, die einzige originäre venezianische Rebsorte. Die wurde schon vor Jahrhunderten in der Lagune angebaut, den daraus hergestellten Wein tranken die Dogen. Irgendwann geriet die Sorte in Vergessenheit – bis sich Bisol in den Kopf setzte, eine Weintradition, die bis zur ersten Besiedlungen der Lagune zurückreicht, wiederzubeleben. Vor acht Jahren füllte er seine ersten Weißweine aus der Dorona-Traube ab, ein Jahr später folgte ein Roter aus anderen Trauben von der Insel Santa Cristina.

Ländliche Lagune

Wer die Weine kosten will, muss die überlaufene Hauptinsel hinter sich lassen und mit dem Boot nach Mazzorbo, einem Nachbareiland von Torcello, schippern. Sobald man von Bord geht, landet man in einem ganz anderen Venedig: ruhig, ländlich, idyllisch. In dieser Umgebung eröffnete Bisol das Weingut Venissa, das in einem zuvor leerstehenden, historischen Landgut untergebracht ist. Hinter den mittelalterlichen Mauern befanden sich bereits ein Kloster, ein Bauernhof und auch einmal ein Weingut – der frühere Besitzer Augusto Scarpa war Ende des 19. Jahrhunderts einer der ersten Önologen Italiens. Neben dem Wein wachsen auch Orchideen, Gemüse und Früchte auf der Insel.

Zum Venissa gehören neben einem kleinen Hotel eine Osteria und ein Restaurant, das schon kurz nach der Eröffnung einen Michelin-Stern verliehen bekam. Das Kochduo Francesco Brutto und Chiara Pavan kreiert dort ständig wechselnde Menüs mit vorzugsweise lokalen Zutaten aus der venezianischen Lagune. Von der Terrasse des Restaurants blickt man in das satte Grün des Gartens, ein märchenhaftes Kleinod, das man hinter den mächtigen Mauern gar nicht vermuten würde. Für das Restaurant wurden dort Beete mit Kräutern und Gemüse angelegt, dazwischen stehen Skulpturen von Künstlern aus der Region. Vor allem aber die mittlerweile 4.000 Rebstöcke am Fuße eines mittelalterlichen, leicht schiefen Campanile und entlang des schmalen Kanals nehmen auf Mazzorbo viel Platz ein. Es sind weit mehr, als Bisol einst auf Torcello vorgefunden hat.

Viel Struktur

Der heute 52-Jährige begab sich damals nach seinem Besuch bei Nicoletta Emmer gleich auf die Suche nach überlebenden Pflanzen. 88 Reben fand er insgesamt mit seinem Sohn Matteo auf verschiedenen Inseln, oft versteckt an den unmöglichsten Orten in Venedig. Lange Zeit dachte man überhaupt, die Dorona-Rebe sei ausgestorben, denn 1966 wurde die gesamte Lagune von einer Flutwelle überschwemmt. Das Wasser zog sich zwei Tage lang nicht zurück und begrub viel Leben unter sich. "Ein paar Stunden sind für die Reben kein Problem. Das passiert immer wieder, die Flut damals war aber zu viel. Die sonst so widerstandsfähigen, gut angepassten Pflanzen wurden vernichtet – aber eben nicht alle", erzählt Matteo Bisol, der seit ein paar Jahren Venissa leitet.

Als die Bisols bekanntgaben, die Weinproduktion in Venedig wieder aufzunehmen, stießen sie anfangs auf große Skepsis. Der Anbau birgt einige Tücken: Salz ist in der Luft, im Boden und im Grundwasser. Sie wagten es dennoch mit der Hilfe von Experten, und mittlerweile stellen die Bisols ihre typischen Weine mit der intensiven gold-orangenen Farbe in besonderer Qualität her. Die Einzigartigkeit des Terroirs verleiht dem Dorona – der Name kommt vom italienischen Wort "oro" für Gold – einen prägnanten Geschmack mit erstaunlich viel Struktur: mineralisch, samtig, mit Frucht- und Zitrus-Aromen.

Abgefüllt wird der Wein in elegante Flaschen von der Glasbläser-Insel Murano. Danach werden diese standesgemäß mit Blattgold verziert – das stammt ebenfalls von der letzten venezianischen Manufaktur für Blattgoldverzierungen auf Murano. Die Bisols produzieren aber eine überschaubare Menge pro Jahr: rund 4.000 Flaschen. Die Ernte dauert mit 15 Helfern deshalb nur einen halben Tag, dann sind alle goldenen Trauben gepflückt.

Insel mit zwei Gesichtern

"Ich schätze das ruhige, beschauliche Landleben von Venedig", sagt Matteo Bisol und meint damit nicht nur Mazzorbo, sondern auch Torcello und Burano. Die Leute haben sich gewisse Eigenarten und Traditionen auf diesen Inseln bewahrt. Auf Burano werden noch immer, wie seit Jahrhunderten üblich, Spitzen in filigraner Feinarbeit geklöppelt, die Fassaden der Häuser sind seit jeher bunt gestrichen. Es ist dennoch eine Insel mit zwei Gesichtern: Wer den Venissa-Weingarten auf Mazzorbo hinter sich lässt und über die Brücke nach Burano geht, landet mitten in den Besucherströmen. Die ziehen tagsüber über die Insel, die dann als reine Instagram-Kulisse für Selfies dient. Auf der kleinen Brücke selbst ist oft kein Durchkommen mehr.

Am frühen Morgen und am Abend dagegen, wenn sich die Fassaden in den glatten Kanälen spiegeln, haben die Einwohner ihre Gassen, Cafés und Restaurants wieder ganz für sich. Dann erwacht das echte Leben, bis es irgendwann nachts wieder so still ist, dass man jeden Schritt hallen hört. Vor einigen Hundert Jahren war das noch ganz anders – da gab es auf den nördlichen Inseln, die damals noch nicht zu Venedig gehörten, wohl nur selten Ruhe. Es existieren alte Zeichnungen, auf denen der Kanal von Mazzorbo so stark befahren ist, dass man ihn für den heutigen Canal Grande halten könnte. Wie gut, dass sich der Rummel mittlerweile völlig in Richtung Rialtobrücke verlegt hat. (Sascha Rettig, RONDO, 16.11.2018)