Beatles 1968 zur Zeit der Aufnahmen für das "Weiße Album". Der Großmutter hat man damals mit der Haarlänge der Fab Four nicht kommen müssen.


Foto: Apple Corps Ltd.

Man kann das nicht oft genug betonen: Musikwiedergabe und die dazugehörigen technischen Gerätschaften sind natürlich eine auch furchtbare Sache. Menschen neigen dazu, "Erkennen" im Sinne von Erkenntnisgewinn mit "Wiedererkennen" zu verwechseln. Sicherheit wird in der Wiederholung gesucht. Generell wird so getan, als hätte sich die Menschheit während der letzten tausend Jahre nur unwesentlich vom Lagerfeuer in der Wohnhöhle und seinen Bi-Ba-Butzemann-Gesängen wegbewegt. Abgesehen vom Streaming-Segment ist die heutige Popmusik eine in edlen CD-Schubern und historisch-kritischen Werkausgaben unternommene Butterfahrt für Best Agers und deren Paypal-Konten. Regelmäßig zum Geburtstag oder zu Weihnachten tun wir uns selbst einen Gefallen und kaufen Musik aus unserer Kindheit, die wir uns damals nicht leisten konnten oder wollten – oder aus reiner jugendlicher Ignoranz nicht kannten.

Das Jahr 2018 bietet angesichts der reichlich spät von der Freizeitindustrie in Angriff genommenen Rückschau auf den rüstigen 50er des Schicksaljahres 1968 reichlich Gelegenheit, alten Schmafu zu hören, mit dem wir uns einreden wollen, dass früher alles zwar auch nicht in Ordnung war, zumindest aber waren die Erlebnishorizonte näher an die jugendliche Erfahrung gerückt, das Bier noch dunkler – und die Tage wurden, öfter als heute üblich, schon vor dem Abend gelobt.

Die Sache mit den langen Haaren

Heuer im Jubiläumsangebot für Menschen mit im Alter eingetretenem kanonischem Geschmack, seniler Sentimentalität und einer gewissen Scheu vor parallel zu Arthrose und Gicht gern auftauchendem Strafjazz auf Ö1 als Ergänzungssoundtrack zum Essen als dem Sex des Alters: 50 Jahre Van Morrison mit Astral Weeks, fünf Jahrzehnte Jimi Hendrix mit Electric Ladyland, ein runder Geburtstag für Sympathy For The Devil von den Rolling Stones, Born To Be Wild von Steppenwolf, Dock of The Bay, In-A-Gadda-Da-Vida, I Heard It Through The Grapevine von Marvin Gaye, das vergessene Meisterwerk The Kinks Are the Village Green Preservation Society, richtungsweisender Synthesizer-Futurismus mit Switched-On Bach von Walter Carlos, What A Wonderful World von Louis Armstrong.

Im Kuchlradio der Mutter ging parallel zu Janis Joplin auf Ö3 auf Radio Oberösterreich Heintjes Mama und Delilah in der deutschen Blockwartversion von Peter Alexander ebenso auf Reisen wie Adamos weinerlicher Mimimi-Hit mit der Träne. Die Großmutter schimpfte dazu recht munter über die Haarlänge ihres Enkerls. Dem wuchs nämlich die Frise über die Ohren, und er wurde somit zum "Jazz-Beatle".

Die Beatles hatten 1968 nach ihrem noch immer in den Charts anhaltenden Welterfolg mit Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band aus dem Vorjahr kurzfristig ihren Schlagzeuger Ringo Starr verloren, der von Aufnahmesessions in den Abbey Road Studios abgehauen war und mit Peter Sellers auf dessen Yacht im Mittelmeer lieber Feldversuche mit Gin und Tonic durchführte als irgendwas mit Avantgarde zu probieren. Er kam zwar widerwillig zu John, Paul, George und der für zusätzliche Spannungen sorgenden Yoko Ono zurück. Bis zur Auflösung 1970 befand sich die größte Band der Welt allerdings in ständiger Krise.

Bevor am 22. November 1968 das stilistisch und qualitativ zerschossene Doppelalbum The Beatles – sehr schnell für alle Zeiten "Weißes Album" genannt – erschien, hatte nicht nur Paul McCartney seine Kollegen mit dem würdelosen Rentnerschlager Ob-La-Di, Ob-La-Da entnervt. Gut ein Drittel der auf dem Album veröffentlichten Songs, darunter etwa Dear Prudence oder Back In The U.S.S.R. von McCartney, waren von den Musikern als Solomaterial weitgehend im Alleingang eingespielt worden.

Die DNA der Popmusik

Bevor es dann im Herbst zum Maharishi Mahesh Yogi auf Ferienlager nach Indien ging (Meditation und Medikation), entstanden allerdings neben Ausschussware wie Rocky Racoon oder Honey Pie einige bis heute strahlende Meilensterne der Popmusik. Wie üblich entstanden solche Klassiker wie While My Guitar Gently Weeps von George Harrison, der wuchtige, gern als früher Heavy Metal missverstandene Vorschlaghammer Helter Skelter, der bis heute in den Neo-Biedermeier-Folk nachtschirpende Blackbird oder die Drogenidylle Happiness Is A Warm Gun unter der Regie des genialen Baumeisters und Soundarchitekten George Martin. Die Single Hey Jude findet sich übrigens nicht auf dem Album.

Das "White Album" der Beatles in unterschiedlichen Neuausgaben.
The Beatles

Anlässlich des 50-Jahr-Jubiläums des "Weißen Albums" wurden jetzt die zur DNA der Popmusik gehörenden Songs zwischen Revolution I, Sexy Sadie oder I'm So Tired in einer auch als sechsteilige Luxus-CD-Box erhältlichen Jubiläumsausgabe nicht nur von George Martins Sohn Giles mit dem elektronischen Kärcher gehörig ausgeputzt. Für eine unterstellt jüngere heutige Hörerschaft wurde das Schlagzeug nach vorn gemischt und mit den Gitarren zentral auf den vorderen Hirnlappen gezielt. Anhand der bisher nur als illegale Bootlegs erhältlichen "Esher Sessions", also akustisch schlank gehaltenen, in George Harrisons Haus aufgenommen Vorstufen zu den jeweiligen Songs, kann man zudem eine Band in Progress erleben, denen Tempoveränderungen sowie Experimente in den Arrangements immer nur gutgetan haben.

Wirklich hören muss man als Kind der Beatles diese Lieder nicht mehr. Sie sind genetisch eingeprägt. Why Don't We Do It In The Road? ist als Meisterwerk des emotionalen Entlastungsgerinnes allerdings heute notwendiger denn je. (Christian Schachinger, 13.11.2018)