Bereits am Montag hatte EU-Brexit-Chefverhandler Michel Barnier in Brüssel gesagt, dass es eine Einigung "in den nächsten Stunden geben" könnte.

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Mürrisch stapft Olly Robbins durch das Foyer des Hotel Sofitel in Brüssel. Als der EU-Berater von Premierministerin Theresa May gefragt wird, ob er denn noch lebe, entgegnet er trocken: "Ich gehe jetzt Fritten essen" – spricht’s und verschwindet auf den Place Jourdan.

Die Nerven lagen blank an diesem Dienstag in Brüssel. "Es ist alles sehr angespannt, weil enorm viel auf dem Spiel steht. Zu viel Information kann im falschen Augenblick einen Shitstorm auslösen – in Großbritannien oder auf unserer Seite des Kanals", sagte ein europäischer Spitzendiplomat Dienstagabend dem STANDARD. Bei den Brexit-Gesprächen an diesem Tag seien die Wortmeldungen alle kurz gewesen.

Am Abend dann meldete die BBC, dass sich EU-Chefverhandler Michel Barnier und seine britischen Gegenüber "auf einen Entwurf für ein Austrittsabkommen geeinigt haben". May begann noch am selben Abend mit Gesprächen mit Kabinettsmigliedern, eine Sitzung der gesamten britischen Regierung ist für heute, Mittwoch, um 15:00 Uhr anberaumt.

Die EU und die Briten hatten schon am Sonntag bis drei Uhr in der Früh verhandelt, am Montag wollten die EU-Europaminister bei einem Treffen in Brüssel von Michel Barnier wissen, wann denn nun Nägel mit Köpfen zu erwarten seien. Zumal auch der Ständige Ratspräsident Donald Tusk schon für einen EU-Sondergipfel am 25. November zu planen begonnen hat.

Nur nicht konkret werden

Aber der Franzose ließ sich nicht dazu hinreißen, allzu konkret zu sein, obwohl er bereits wusste, dass auf der technischen Ebene mit seinem britischen Partner Dominic Raab eigentlich alles klar schien. Das galt auch für die schwierigste und bis zuletzt am meisten umstrittene Frage, wie man nach einem Austritt der Briten die offene Grenze zwischen der Republik Irland im Süden und Nordirland, das als Teil des ausgetretenen Großbritanniens zum Drittland wird, erhalten soll.

  • Die Nordirland-Frage Die EU-27 hatten bereits vor Wochen angeboten, dass man sich eine Lösung derart vorstellen könne, dass nicht nur Nordirland nach dem Austrittstermin am 29. März in der Zollunion bliebe, sondern ganz Großbritannien. Und es könnte auch die "Übergangsperiode", in der das Land weiterhin wie ein EU-Mitglied behandelt werde, von 21 Monaten um ein Jahr verlängert werden. Genau dieser Zeitgewinn würde es beiden Seiten ermöglichen, die Folgen und die Umstellungen durch den Brexit nach dem geplanten Austritt am 29. März in Ruhe abzuarbeiten, den Bürgern und den Unternehmen die Phase der Veränderungen zu erleichtern.

Brüske Zurückweisung

Das Problem war: Die Hardliner in Mays Partei lehnten das brüsk ab, weil in der Übergangsphase weiterhin EU-Recht bzw. die Ultima Ratio des Europäischen Gerichtshofes gelten würde. Das wird als "Unterwerfung" gesehen, das Gegenteil dessen, was den Bürgern vor dem Brexit-Referendum versprochen worden sei, wie Jo Johnson sagte. Der Bruder des früheren Außenministers und wortgewaltigen Brexit-Befürworters Boris Johnson war am vergangenen Freitag deshalb als Verkehrsstaatssekretär zurückgetreten.

May möchte die Hardliner besänftigen, indem ein frühzeitiger Ausstiegsmechanismus aus der Zollunion zur Anwendung kommen könnte, was die EU-27 ablehnten. Wie man diesen Widerspruch letztlich auflöste, war zunächst nicht bekannt. Möglicherweise wird man ein Schiedsgericht nach dem Vorbild des EU-Freihandelsvertrages mit Kanada schaffen. Das wäre sachlogisch. Denn das Ziel sowohl von Großbritannien wie der EU-27 ist es bekanntermaßen, nach dem Brexit "möglichst enge Beziehungen" weiter zu pflegen, wenn die Briten zum Drittland werden. So ist das auch mit Kanada durch Ceta.

  • Das EU-Budget Auf alle anderen großen Themen hatte man sich unterdessen längst geeinigt. London wird bis Ende 2020 weiter ins EU-Budget einzahlen und an gemeinsamen Programmen teilnehmen. Insgesamt werden die Verpflichtungen der Briten an die EU rund 44 Milliarden Euro ausmachen.
  • Die Bürgerrechte Was mit den Rechten von EU-Bürgern geschieht, die in Großbritannien leben und arbeiten, und der Briten, die in einem der 27 EU-Staaten leben, ist ebenfalls bereits geklärt. Sie werden weiterhin gleichbehandelt wie die Bürger ihrer Gaststaaten, haben das Recht, sich dauerhaft anzusiedeln. Dabei geht es immerhin um 3,5 Millionen EU-Bürger in Großbritannien und rund einer Million Briten in der Union.

Laut eingeweihten Diplomaten muss das nun ausgehandelte Papier allerdings nicht nur von der britischen Regierung und vor allem vom Parlament in Westminster abgenickt werden, auch die europäischen Hauptstädte müssen den Entwurf prüfen und ihm zustimmen. Es ist gut möglich, dass es auch auf dem Kontinent oder in Irland noch zu Bedenken kommt. Heute, Mittwoch, will Barnier den Text den Botschaftern der EU-27 vorstellen, am kommenden Montag dann sollen einander erneut die EU-Minister der 27 verbleibenden Mitgliedstaaten treffen.

Inzwischen gibt es auch neue Studien, was der Brexit die Union und vor allem Großbritannien kosten wird. In einem am Montag erschienenen Kommentar der anderen erklärte Richard Barfield von der Informationskampagne "The Brexit Fact Base", dass "Daumen mal Pi ein Prozent weniger britische Exporte ein Minus von 0,2 bis 0,3 Prozentpunkten im britischen BIP bedeuten und etwa ebenso viel Minus in der Beschäftigung" ergeben würden. Zwischen 0,8 bis 1,3 Millionen Jobs seien auf der Insel in Gefahr.

Osteuropäer werden leiden

Die niederländische ING-Bank präsentierte am Dienstag eine Studie, dass Tschechien, Polen und Ungarn auf dem Kontinent durch den Brexit grob in Mitleidenschaft gezogen werden dürften. Änderungen der Zulieferketten und Rückflüsse von Arbeitern in Großbritannien könnten einen Umfang erreichen, der etwa 20 Prozent der EU-Subventionen für diese Länder ausmachen könnte.

Großbritannien ist Polens größter Exportmarkt und sorgt in Warschau für ein Außenhandelsplus von acht Milliarden Euro. Ungarn und Tschechien sind große Zulieferer im Automobilbereich für die Briten. (Thomas Mayer aus Straßburg, Christoph Prantner, 13.11.2018)