Nach 6. Lg2: Der "Reversed Dragon", die Drachenvariante des Sizilianers mit vertauschten Farben.

Nach 15. Te1: Ein "mysteriöser Turmzug" des Weltmeisters à la Nimzowitsch.

1/2-1/2 nach 34. Tbc1: Die Bauernschwächen auf b4 und c6 halten sich die Waage.

Die Schach-WM in London wartet weiter auf den ersten Sieger: Viertes WM-Remis zwischen Caruana und Carlsen.

London – Magnus Carlsen spricht nicht nur sehr gut Englisch, er spielt es auch virtuos. 1. c4, zu Ehren eines großen englischen Meisters des 19. Jahrhunderts, Howard Staunton, als Englische Eröffnung bezeichnet, ist allerdings nicht der Standard-Eröffnungszug des Weltmeisters. Dass es in dieser vierten Partie der WM aufs Brett kommt, ist daher eine kleine Überraschung – für alle außer Fabiano Caruana.

Der Herausforderer schleudert seine ersten Züge nämlich geradezu heraus, so als habe er mit nichts anderem als der vom Weltmeister gewählten Flankeneröffnung gerechnet. "Was immer du auch probierst, ich bin vorbereitet", will Caruana seinem Gegner damit sagen. Bald ist aus der Englischen Partie eine sizilianische Struktur mit vertauschten Farben entstanden, die den Namen Drachenvariante trägt.

Drache verkehrt

Und hier wird es etwas kompliziert: Der "echte Drache" führt oft zu taktischen Schlachten mit heterogenen Rochaden und heftigen Königsangriffen. Der Drache mit vertauschten Farben allerdings, zu Englisch auch "Reversed Dragon" genannt (was mehr nach einer Kung-Fu-Technik als nach Schach klingt), ist eher für langsame, positionelle Auseinandersetzungen bekannt.

Der österreichische Großmeister Markus Ragger analysiert die vierte Partie der Schach-WM 2018.
Österreichischer Schachbund

Genau so kommt es dann auch. Fabiano Caruana tauscht rasch beide Springerpaare ab, und Magnus Carlsen versucht Ansätze für ein Druckspiel mit seinen etwas aktiver postierten Läufern zu finden. Die meisten Beobachter erwarten vom Weltmeister einen sogenannten Minoritätsangriff am Damenflügel: Dabei würde Weiß seine beiden verbliebenen Damenflügelbauern gegen die drei Fußsoldaten Caruanas ins Feld schicken, um Schwächen zu schaffen, die dann von den Schwerfiguren belagert werden können.

b5 or not b5

Mit 11. b4 und 14. a4 arbeitet Carlsen in diese Richtung. Aber dann wechselt er plötzlich den Plan. Der Weltmeister hat abgeschätzt, dass sein Gegenüber zu solide steht, um mit 15. b5 am Damenflügel erschüttert zu werden. Also spielt der Norweger mit 15. Te1 lieber etwas, das der Schachtheoretiker der hypermodernen Ära, Aaron Nimzowitsch, gerne als "mysteriösen Turmzug" bezeichnete.

Denn was tut der Turm auf der verbauten e-Linie eigentlich? Wie der Weltmeister in der Pressekonferenz auf Nachfrage dieses Reporters erläutert, im Grunde nicht viel. Zumindest aber verhindert der Zug die Entwicklung von Caruanas weißfeldrigem Läufer mit Tempo auf das Feld h3, worauf sich der Turm auf f1 einem Angriff ausgesetzt gesehen hätte.

Nach schlimmen Sorgen für Fabiano Caruana klingt das nicht unbedingt. Tatsächlich gelingt dem Nachziehenden recht mühelos der Abtausch weiteren Holzes. Das Endspiel mit zwei Turmpaaren und je einem schwarzfeldrigen Läufer mag optisch eingangs etwas besser für den Weltmeister aussehen. Viel los ist hier aber nicht.

Caruana, der in seiner zweiten Schwarzpartie erneut wenig Bedenkzeit verbraucht und sehr selbstbewusst agiert, hat keine Schwierigkeiten, eine für Carlsens Kräfte undurchdringliche Aufstellung zu finden. Nach 34 Zügen wird der Punkt fair geteilt.

Peinlicher Eröffnungsleak

Heißer geht es an diesem Dienstag in London abseits des Brettes zu. Im Internet ist nämlich ein Video aufgetaucht, das Einblicke in Fabiano Caruanas Eröffnungsvorbereitung gibt, die der US-Amerikaner garantiert lieber für sich behalten hätte. Ausgerechnet der Caruana auch finanziell unterstützende Saint Louis Chess Club von Schachmäzen Rex Sinquefield hat den Clip veröffentlicht, in dem in einer Großaufnahme eines Laptops unter anderem Eröffnungs-Dateien des Teams Caruana zu Subvarianten innerhalb der Russischen oder der Grünfeld-Verteidigung sichtbar werden.

Ein sichtlich verärgerter Caruana will den Vorfall bei der Pressekonferenz nach der Partie nicht kommentieren. Carlsen hingegen antwortet genüsslich, er werde definitiv einen Blick auf das Filmchen werfen, das eigentlich als Promotion-Video gedacht war und den Herausforderer unter anderem beim Basketballspiel mit nacktem Oberkörper zeigt.

Wie substanziell die im Clip sichtbaren Informationen sind, ist schwer abzuschätzen. Allein der Hinweis, dass Caruana mit Schwarz im Verlauf des Matches möglicherweise auf Grünfeld-Indisch zurückgreifen wird, könnte für das Team Carlsen allerdings ausgesprochen wertvoll sein.

Rat aus Jamaika

Die meisten Lacher hat bei der Pressekonferenz im College Holborn schließlich der Präsident des jamaikanischen Schachverbandes auf seiner Seite, der die WM als Gast besucht. Er ruft Fabiano Caruana zu, dass dieser den Weltmeister mit einer aggressiven Eröffnung einmal so richtig am Solar Plexus erwischen solle. Carlsen sehe nämlich viel zu entspannt aus, wie er da in seinem Sessel sitze.

Ein Schlag, den Caruana nun in Ruhe einüben könnte, am Mittwoch folgt nämlich der zweite Ruhetag des Matches. Am Donnerstag führt der Herausforderer in Partie fünf ab 16 Uhr MEZ wieder die weißen Steine. Es steht 2:2. (Anatol Vitouch aus London, 13.11.2018)

Die Notation der 4. Partie der Schach-Weltmeisterschaft in London vom Montag:

Schwarz: Fabiano Caruana (USA)
Weiß: Magnus Carlsen (NOR)
Remis – Zwischenstand: 2:2

1. c4 e5 2. Nc3 Nf6 3. Nf3 Nc6 4. g3 d5 5. cxd5 Nxd5 6. Bg2 Bc5 7. O-O O-O 8. d3 Re8 9. Bd2 Nxc3 10. Bxc3 Nd4 11. b4 Bd6 12. Rb1 Nxf3+ 13. Bxf3 a6 14. a4 c6 15. Re1 Bd7 16. e3 Qf6 17. Be4 Bf5 18. Qf3 Bxe4 19. Qxf6 gxf6 20. dxe4 b5 21. Red1 Bf8 22. axb5 axb5 23. Kg2 Red8 24. Rdc1 Kg7 25. Be1 Rdc8 26. Rc2 Ra4 27. Kf3 h5 28. Ke2 Kg6 29. h3 f5 30. exf5+ Kxf5 31. f3 Be7 32. e4+ Ke6 33. Bd2 Bd6 34. Rbc1

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