Theresa May steht seit Monaten in der Kritik der Brexit-Ultras in ihrer eigenen Partei.

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Nach der vorläufigen Einigung mit Brüssel hat die britische Premierministerin Theresa May am Dienstagabend damit begonnen, ihr Kabinett sowie das Unterhaus hinter der geplanten Vereinbarung zu sammeln. In Einzelgesprächen mit den Ministern an ihrem Amtssitz in der Downing Street sondierte die konservative Politikerin die Stimmung in ihrer Partei. Für Mittwochnachmittag ist eine Sondersitzung des Kabinetts vorgesehen. Sollte May dort grünes Licht bekommen, würde noch in diesem Monat ein EU-Sondergipfel einberufen.

Einzelheiten über die offenbar mehrere Hundert Seiten umfassenden Dokumente – den EU-Austrittsvertrag sowie die politische Erklärung über die zukünftige Zusammenarbeit – sickerten am Dienstag noch nicht durch. Auch hielt sich Brüssel betont bedeckt. Die irische Regierung ließ in Dublin verlauten, die Verhandlungen seien "noch nicht beendet".

Zankapfel Nordirland

Bis zuletzt umstritten war eine Garantie zum künftigen Status von Nordirland. Alle Parteien hatten sich frühzeitig darauf geeinigt, dass die extrem durchlässige Grenze zwischen der britischen Nordprovinz und der Republik im Süden auch in Zukunft offen gehalten werden solle. Da dies nicht mit Londons ursprünglichem Plan eines glatten Austritts aus Binnenmarkt und Zollunion – dem sogenannten harten Brexit – vereinbar war, ist die May-Regierung in den vergangenen Monaten auf einen wesentlich weicheren Kurs eingeschwenkt.

Offenbar soll nun das gesamte Vereinigte Königreich über die ohnehin vereinbarte Übergangsphase bis Ende Dezember 2020 hinaus in der Zollunion mit der EU verbleiben, bis eine Speziallösung für Nordirland gefunden ist. Presseberichten in London zufolge stellten wichtige EU-Mitglieder wie Italien, Deutschland und die Niederlande für dieses Entgegenkommen harte Bedingungen. So muss sich die Insel während ihrer Mitgliedschaft in der Zollunion auch zukünftig an EU-Mindeststandards in der Arbeits- und Umweltgesetzgebung halten. Urteilen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) werde durch britische Gerichte "angemessene Aufmerksamkeit" gezollt. Gegen den Deal hat sich Arlene Foster ausgesprochen, Chefin der Democratic Unionist Party (DUP) Nordirlands.

May in der Kritik

May stand seit Monaten in der Kritik der Brexit-Ultras in ihrer eigenen Partei, angeführt von den Ex-Ministern Boris Johnson und David Davis, die im Juli das Kabinett verlassen hatten. Sie haben ausdrücklich jegliche Einschränkung britischer Souveränität von 2021 an ausgeschlossen. Sollte die EU hart bleiben, müsse man eben zum vorgesehenen Termin Ende März ohne Vereinbarung ausscheiden. Davor warnt die britische Wirtschaft in schrillen Tönen. Große Unternehmen haben bereits Fabrikschließungen und Kurzarbeit angekündigt, zudem viele Millionen in die Lagerung von Ersatzteilen für die Produktion investiert.

Vergangene Woche geriet die Premierministerin zusätzlich ins Kreuzfeuer der konservativen EU-Freunde. Johnsons jüngerer Bruder Joseph trat von seinem Posten als Verkehrsstaatssekretär zurück mit der Begründung, May wolle das Land vor eine inakzeptable Alternative stellen: "Entweder Vasallentum oder Chaos." Stattdessen solle das Wahlvolk in einer zweiten Abstimmung die Gelegenheit bekommen, den EU-Austritt rückgängig zu machen. Dafür setzen sich Prominente wie der Ex-Fußballer Gary Lineker, Popsänger Bob Geldof und Ex-Premier Tony Blair ein.

Opposition unter Druck

Die offenbar unterschriftsreife Vereinbarung zwischen London und Brüssel setzt neben den Gruppen innerhalb der konservativen Regierungspartei auch die Labour-Opposition unter neuen Druck. Parteichef Jeremy Corbyn steht dem europäischen Einigungsprojekt feindselig gegenüber. Erst vergangene Woche teilte er dem Magazin "Spiegel" mit, der Brexit sei nicht mehr aufzuhalten. Öffentlich widersprach dieser Einlassung Labours Brexit-Sprecher Keir Starmer: Die Partei werde Mays Deal sorgfältig prüfen und einen Chaos-Brexit nicht zulassen. Notfalls sei auch ein zweites Referendum denkbar.

Die wichtigsten britischen Oppositionsparteien forderten am späten Dienstagabend ein Recht auf Vertragsänderung. Corbyn verlangte in einem gemeinsamen Brief mit den Chefs der schottischen Nationalpartei und der Liberaldemokraten, dass vor der Abstimmung Modifizierungen der Einigung zugelassen werden sollten.

Am späten Dienstagabend gab es Berichte, wonach mindestens fünf gewichtige Minister Mays Deal unterstützen würden. Zu ihnen zählen Brexit-Minister Dominic Raab und Außenminister Jeremy Hunt.

Aus Brüssel hatte es bereits vergangene Woche geheißen, man bereite sich auf einen Brexit-Sondergipfel am 25. November, einem Sonntag, vor. Die Finanzmärkte reagierten am Dienstag positiv: Das Pfund legte gegenüber Dollar und Euro zu.

Notfallmaßnahmen

Die Verhandlungen mit Großbritannien über den EU-Austritt im März 2019 waren in den vergangenen Monaten ins Stocken geraten. Eine Einigung muss spätestens im Dezember stehen, um die Ratifizierung durch die Parlamente auf beiden Seiten rechtzeitig vor dem Brexit-Datum zu ermöglichen.

Für den Fall eines Scheiterns der Brexit-Verhandlungen hatte die EU-Kommission am Dienstag einen Notfallplan verabschiedet. Er enthält "Notfallmaßnahmen in vorrangigen Bereichen" wie dem Luftverkehr oder bei Aufenthalts- und Visafragen, wie die EU-Behörde mitteilte. Der Notfallplan soll laut EU-Kommission auch Gebiete wie Finanzdienstleistungen, Hygiene- und Pflanzenvorschriften, die Übermittlung personenbezogener Daten sowie die Klimapolitik umfassen.

"Wir arbeiten sehr hart daran, eine Vereinbarung mit dem Vereinigten Königreich zu erzielen", sagte Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans in Straßburg. "Wir machen Fortschritte, aber wir sind noch nicht am Ziel." Es sei die Pflicht der EU, sich "auf alle Ergebnisse" der Brexit-Verhandlungen vorzubereiten. (Sebastian Borger aus London, red, 13.11.2018)