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Das Volk zürnt wieder: In Sofia wie in anderen Städten Bulgariens gehen seit dem vergangenen Wochenende wieder aufgebrachte Bürger auf die Straßen. Sie wollen die Rücknahme von Preissteigerungen bei Kfz-Versicherungen und -Steuern, die vor allem ältere Fahrzeuge betreffen, oder gleich den Rücktritt der rechtsgerichteten Koalitionsregierung von Bojko Borissow. Die Preise von Versicherungen oder Treibstoffen nehmen sich im europäischen Vergleich immer noch recht bescheiden aus, doch mehr als ein Drittel der Bulgaren lebt in Armut.

Reuters / Dimitar Kyosemarliev

Beim Auto hört auch in Bulgarien der Spaß auf. Massive Erhöhungen der Kfz-Versicherungen und der Gemeindesteuer für Fahrzeuge um bis zu 50 Prozent haben im ärmsten Land der EU eine neue Welle von Straßenprotesten ausgelöst. Aufgebrachte Bürger begannen am vergangenen Wochenende Autobahnen und andere wichtige Straßen mit ihren Autos zu blockieren. Sie fordern unter anderem auch eine Rücknahme der Preiserhöhungen beim Dieseltreibstoff. Der heute wieder regierende konservative Ministerpräsident Bojko Borissow war schon einmal vor fünf Jahren während massiver Straßenproteste zurückgetreten.

Damals, im Winter 2013, wuchsen sich die Demonstrationen gegen Preissteigerungen rasch zu einem gesellschaftlichen Protest gegen die mafiösen Strukturen in Staat und Wirtschaft in Bulgarien aus. Als es gar zu Selbstverbrennungen auf der Straße kam, gab Borissow auf. Fünf Jahre später scheint sich das Land demselben Punkt zu nähern. Die Bürgerbewegung Promjana (Wandel), die bereits 2013 aktiv war, kündigte landesweite – und wie sie betonte – friedliche Proteste für einen "Systemwechsel" am kommenden Sonntag an. Preissteigerungen und die soziale Armut im Land nennt Promjana einen "Völkermord" an den Bulgaren.

22 Euro Bonus

Borissow begann am Mittwoch zu reagieren. Bei der wöchentlichen Kabinettssitzung gab der Premier Bonuszahlungen an die mehr als eine Million Bezieher kleiner Pensionen in Bulgarien bekannt. Dieser Weihnachtsbonus dürfte sich auf 43 Lewa, umgerechnet 22 Euro, belaufen. Ein großer Teil der mehr als zwei Millionen Pensionisten in Bulgarien bezieht lediglich um die umgerechnet 100 Euro im Monat.

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Angesichts des öffentlichen Drucks kündigte die Wettbewerbsbehörde am Mittwoch zudem eine Kontrolle der sechs größten Tankstellenbetreiber im Land wegen möglicher Preisabsprachen an. Zu diesen Firmen zählt auch die bulgarische Tochter der OMV. Ähnliche Untersuchungen in der Vergangenheit erbrachten keine Belege für Rechtsverstöße.

Der Preis für Diesel hat nach den ersten Protesten zu Wochenbeginn sofort nachgegeben und liegt derzeit bei umgerechnet etwa 1,20 Euro. Von außen betrachtet ist die Aufregung in Bulgarien über das Preisniveau wenig verständlich. Auch die kommunale Steuer auf Pkws und die Pflichtversicherungen nehmen sich sehr bescheiden aus: In der Hauptstadt Sofia zahlt man für einen kleinen Wagen bisher gerade einmal umgerechnet um die 20 Euro Steuer und je nach Anbieter etwa 140 Euro für die obligatorische Versicherung mit voller Selbstbeteiligung.

Europas Schlusslicht

Doch auch mehr als zehn Jahre nach dem EU-Beitritt bleibt Bulgarien hinter Rumänien das ärmste Land der Union. Das Durchschnittseinkommen liegt bei nur etwa 500 Euro in den größeren Städten, das statistische mittlere Einkommen der Familienhaushalte für 2017 bei 7.022 Lewa oder 3.590 Euro im Jahr.

Laut den im Vormonat veröffentlichten Angaben von Eurostat ist mehr als ein Drittel der Bulgaren dem "Risiko der Armut oder des sozialen Ausschlusses" ausgesetzt. 38,9 Prozent der Bevölkerung sind in dieser Situation. Eurostat und die EU-Kommission werten diese Zahl zumindest als eine Verbesserung; vor zehn Jahren seien noch 44,8 Prozent der Bulgaren von Armut betroffen gewesen. Tatsächlich aber wies die Statistik von Eurostat 2010 für das Jahr 2008 eine Armutsbedrohung bei 21 Prozent der bulgarischen Bevölkerung aus. 51 Prozent waren damals als "materiell" im Notstand bewertet worden – ein Kriterium ist hierbei etwa die Möglichkeit, einmal im Jahr Urlaub verbringen zu können.

Staatschef unterstützt

Bei den nun angelaufenen Protesten stellte sich der von der sozialistischen Opposition unterstützte Staatspräsident Rumen Radew sogleich auf die Seite der Demonstranten. Der Regierung warf der ehemalige Chef der bulgarischen Luftstreitkräfte Arroganz und Zynismus vor. So hatten Minister ebenso wie der Vorsitzende der konservativen Regierungspartei Gerb (Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens), Zwetan Zwetanow, erklärt, die Regierung lege keine Treibstoffpreise fest, und Bulgarien produziere auch kein Erdöl. Zweifel wurden auch laut, ob die wenigen Tausend Demonstranten für ihre Proteste nicht auch bezahlt würden. Kritiker wie der Politikwissenschafter Jewgeni Dainow wollen gleichwohl bereits das Ende der rechtsnationalistischen Koalitionsregierung von Borissow sehen.

Politische Tragweite haben die neuen Proteste jedenfalls wegen des von der Regierung nun angestrebten Beitritts zur Eurozone. Von der Seite der Staatsfinanzen betrachtet erfüllt das Land längst die Voraussetzungen für die Teilnahme an der Währungsunion. Doch die faktische Verdopplung der Lebenskosten, die mit der Einführung des Euro einherzugehen pflegt, würde unter den derzeitigen Bedingungen wohl einen Sturm im Land auslösen, dem keine Regierung standhalten könnte. (Markus Bernath aus Sofia, 14.11.2018)