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Premierministerin Theresa May verfolgt längst einen weichen Brexit.

Foto: REUTERS/Henry Nicholls

Mit einem Schlag hat sich die Stimmung verändert. Gerade noch wirkte Theresa May, als stehe sie kurz vor dem Knock-out. Hatten wochenlang die Brexit-Ultras in der eigenen Partei auf die britische Premierministerin eingeprügelt, so kamen vergangene Woche die Einschläge von der anderen Seite. Mit starken Worten warnten konservative EU-Freunde die Parteichefin davor, das Land entweder "dem Vasallenstatus oder dem Chaos" auszuliefern.

Nun, da ein hunderte Seiten starker vorläufiger Deal mit der Europäischen Union vorliegt, hat May einstweilen ihre Balance zurückgewonnen. Die Fragen der Öffentlichkeit richten sich stattdessen an die Kritiker: Mag die Vereinbarung mit Brüssel auch nicht wahnsinnig toll sein – worin besteht eure Alternative? Vor dieser Frage stehen auch jene Minister, die am Mittwoch als Wackelkandidaten in die Kabinettssitzung gingen. Rücktritte bleiben möglich. Aber um die Premierministerin akut zu gefährden, müsste schon einer der unmittelbaren Nachfolgekandidaten wie Außenminister Jeremy Hunt oder Innenminister Sajid Javid seinen Hut nehmen.

Nicht dass Theresa Mays Position in den kommenden Wochen sonderlich komfortabel erschienen wäre. Zu großen Teilen hat sich die stets ein wenig steif wirkende Technokratin das selbst zuzuschreiben. Nach ihrem Amtsantritt im Juli 2016 im Gefolge der Brexit-Abstimmung machte sich die Premierministerin uneingeschränkt die Sache der Brexit-Ultras zu eigen. Sie ignorierte also nicht nur jene 48 Prozent des Wahlvolks, die am 23. Juni in der EU hatten bleiben wollen. Sie interpretierte auch die Wünsche der anderen 52 Prozent in der denkbar extremsten Weise: Austritt aus Zollunion und Binnenmarkt.

Weicher Brexit

Davon war auch am Mittwoch wieder die Rede. Bis heute bleibt May bei ihrem Slogan "Wir werden die Kontrolle über unsere Grenzen, unsere Gesetze und unser Geld zurückbekommen". In Wirklichkeit verfolgt sie längst einen weichen Brexit – ohne das aber klar zu sagen. May handelt im nationalen Interesse des Vereinigten Königreichs, wie sie es versteht. Angemessen ausdrücken kann sie das jedoch nicht.

Der jetzt als Übergangslösung propagierte Verbleib des gesamten Vereinigten Königreichs in der Zollunion samt Einhaltung wichtiger EU-Regularien sieht – wie Mays Amtszeit als Premierministerin – aus wie eine jener Interimslösungen, die zur Permanenz neigen. Das wäre gut für das Land. Erstens würde dadurch die irische Grenze offen gehalten, und der Zusammenhalt Großbritanniens mit Nordirland bliebe bestehen. Zweitens erlitte die Wirtschaft nicht noch zusätzlichen Schaden.

Die verbleibenden 27 EU-Mitglieder müssen sich die Frage stellen, worin ihr strategisches Interesse besteht. Wollen sie May das schwierige politische Geschäft erleichtern, den vorläufigen Deal wasserdicht machen und Großbritannien auf Dauer an den Kontinent binden? Dann sollten Berlin, Paris und Rom nicht nur jede Besserwisserei vermeiden, sondern auch die EU-Institutionen energisch auf folgende Binsenweisheit hinweisen: Jegliches Triumphgeheul aus Brüssel erhöht nur die Chance, dass sich die nationalistischen Schreihälse auf der Insel doch noch durchsetzen.

Der britische Austritt aus der EU selbst ist schlimm genug – für beide Seiten. Ein Chaos-Brexit wäre katastrophal – ebenfalls für beide Seiten. (Sebastian Borger, 14.11.2018)