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"Wer soll einen bestrafen, wenn man in einen Hundescheißhaufen tritt, absichtlich nämlich, um dem letzten rückständigen Hundehalter mal zu zeigen, was für ein vorsätzliches Auslaufmodell er ist?"

Foto: dpa/Roland Weihrauch

Zunächst die Frage, was der öffentliche Raum überhaupt ist, wo fängt er an, wo hört er auf? Menschen können öffentliche Räume betreten, hinter ihren verschlossenen Türen, indem sie via Internet dennoch draußen sind, also in einer digitalen Öffentlichkeit ungefiltert herummeinen, das ist außen, aber von einer privaten, geschützten Schießscharte aus. Um diese öffentlichen Räume geht es nicht, es ist ja alles hinlänglich bekannt, dass in diesen Räumen alle Hoffnung auf einen disziplinierten, würdevollen und höflichen Umgang miteinander verloren ist, hier lässt sich nichts regulieren, kein Forumswart kommt mehr nach. Das hat oft nichts mehr mit freier Meinungsäußerung zu tun, sondern ist eine sadistische Treibjagd. Hassen ist das Hartgeld des Artikulationsprekariats, und diejenigen, die sich über die sogenannten Systemmedien ereifern und ihnen tendenziöse Verzerrung der Faktizität vorwerfen, glauben den größten Schwachsinn, aus dem sich dieser irregeleitete Schwarm sein paranoides Weltbild zusammenbastelt (Die Mondlandung fand in der Schweiz statt, weil der Mond ein riesiger Emmentaler ist). In der Kohlenstoffwelt hingegen gibt es Absprachen darüber, was man darf, wie man sich verhält. Das passiert instinktiv, man braucht dafür keine Prüfung abzulegen, sollte man meinen. Natürlich ist das von Region zu Region verschieden, in der Schweiz fährt man anders Auto als in Kalkutta, dafür kennt man in Saudi-Arabien keine Radfahrer, und wer in Los Angeles zu Fuß unterwegs ist, wird verhaftet.

Ein Sport von Hundehaltern

Wien war vor nicht allzu langer Zeit die möglicherweise, nun ja, zugeschissenste Stadt der Welt, also von Hunden, das war geradezu ein Sport von Hundehaltern, man glaubt es kaum, aber es war tatsächlich so, so wie in Restaurants rücksichtslos geraucht wurde, und man nahm das auch noch hin, weil es keine Alternative gab. Das mit den Hundefäkalien ist auf wundersame Weise verschwunden, so wie auf wundersame Weise das Rauchverbot, also die Verabredung und Einsicht zur Vernunft, jetzt dann doch wieder gekippt wird, so hat bei Hundehaltern offenbar irgendwann die Scham gesiegt, dass der öffentliche Raum eben auch etwas mit einem altruistischen Miteinander zu tun haben könnte, sobald dieser Missstand (Scheiße), vielleicht auch durch die Schilder in den Grünflächen ("Nimm ein Sackerl für dein Gackerl"), öffentlich gemacht wurde, und man selbst als Tierhalter die durch die Schilder konditionierten bösen Blicke der Tretminenopfer einfach nicht mehr ertragen mochte, es wurde plötzlich etwas sichtbar, was über die Fäkalien ging, dass diese perfide Anarchie sich irgendwann gegen einen selbst richten könnte, weil, wenn sukzessive alle einsichtig werden, man aufpassen muss, nicht der Letzte zu sein, denn zu Privatanarchie sind Schwarmanarchisten naturgemäß zu feige, wie es immer peinlich ist, in der Disco als letzter Gast das Licht anmachen zu müssen, weil es bedeutet, dass man verloren hat, allein nach Hause gehen muss und das Tageslicht einen auslacht.

Aber was passiert sonst noch im öffentlichen Raum, wie benutzt man ihn, wer bestimmt die Regeln, abseits der bekannten, dass man bei Ampelrot stehen bleibt, nicht jemandem so einfach auf die Nase boxt, nicht in den Einkaufswagen eines anderen kotzt oder sich über dessen Inhalt lustig macht, wenn einem die Produkte nicht konvenieren (Blaschke-Kokoskuppeln, parfümiertes Klopapier, achtzigprozentiger Stroh-Rum), oder dem Geschlechtsverkehr auf der Verkehrsinsel frönt, wie es Paul McCartney einst bedauerte (Why don't we do it in the road?).

Der öffentliche Raum ist abseits dieser festgelegten Regeln und vernünftigen und unausgesprochenen Absprachen ein recht diffiziler, weil es kein Verhaltensmuster für pure Anwesenheit gibt (wie steht man, gehe ich korrekt, darf ich meine Augen an der Bushaltestelle schließen?) beziehungsweise die Grauzonen, was erlaubt ist und was andere vielleicht stören könnte. Apropos Bushaltestellen: Wartende stehen immer in der Blickrichtung, aus der der Bus kommen sollte, so wie Vogelgruppen immer mit dem Schnabel in Windrichtung stehen, damit der Wind das wärmende Gefieder nicht aufbläst, so haben Buspassagiere große Verlustangst, dass wenn sie den Bus nicht sehen, er sie auch nicht sieht und nicht hält.

Es gibt einen relativ neuen Begriff, das ist das sogenannte Manspreading, Männer sitzen mit gespreizten Beinen in Bussen und Bahnen und nehmen mehr Raum als, nun ja, Frauen ein, Männern fällt das gar nicht mal auf, das ist kein Revierabstecken, wie man es von den notorischen Armlehnen-Hitlers im Kino und im Flugzeug kennt, und wenn es eine Machtdemonstration sein sollte, dann allenfalls gegen andere Männer, und wenn man sie darauf hinweist, werden sie bei den gespreizten Beinen etwas von biologistischer Notwendigkeit erzählen, ihr Cremaster (also der Hodenheber, der für die richtige Temperatur der Spermien sorgt, weswegen die Hoden ja ständig in Bewegung bleiben müssen) könne unter anderen Umständen nicht zufriedenstellend arbeiten und die gespreizten Beine sichern letztlich das Überleben der Menschheit, und außerdem blockieren Frauen mit ihren vielen Taschen ja auch Sitzplätze, sichern Schuhkauf oder was auch immer Frauen da andauernd anschleppen und kaufen müssen, das Überleben der Menschheit?

Diese genderdivergierenden Verhalten im öffentlichen Raum sind ja noch ganz amüsant und belasten niemanden wirklich, jede Frau hat das Recht, einem mit gespreizten Beinen dasitzenden Mann zu sagen: "Ich will kein Kind von dir, also klapp die Beine zusammen wie das Buch, das du nicht liest!", und jeder Mann hat das Recht zu sagen: "27 Taschen sind eine zu viel, um mich zum Schuhfetischisten zu machen", oder: "Aus Manolo Blahniks trink ich nur Eierlikör mit einem Spritzer Grenadine und einem Schirmchen". Der Mann klappt die Beine zusammen, die Frau nimmt reuig die Schuhschachteln vom Sitz, auf den sich ächzend ein Sieben-Zentner-Koloss wuchtet, der aber Gott sei Dank schwul ist.

Was ist mit dem Luftraum?

Aber was ist mit dem öffentlichen Raum, den, den man nicht sieht, dem Luftraum, was ist mit der Luft zwischen uns? Wem gehört die Luft, die uns von den Unbekannten polstert, man will ja nicht gleich mit jedem Kleptokraten oder jeder Klemmschwester kuscheln? Gut, mit miasmatischem Atem, Alteierlikör im Blut und einem eitrigen Backenzahn fragt man einen harthörigen Parfumentwickler nicht nach der Uhrzeit oder nach dem Weg ins nächste Bordell, und Frauen mit stark überteuerten Deodorants (Pflegeprodukte für Frauen sind immer um das circa Vierfache teurer als jene für Männer, so wie auch Haarschnitte) könnte man auch mal dezent darauf hinweisen, dass sie unparfümiert nicht stinken, eher stinken sie parfümiert. Und wenn sie ein leichtes Odeur haben sollten, finden das Männer allenfalls attraktiv. Die Industrie redet den Frauen ein, einen üblen Körpergeruch zu haben, und schlagen daraus enormes Kapital. Keinmal darf man raten, ob diese Industrie männlich oder weiblich ist.

Männer dünsten Testosteron aus, stinken wie rollige Iltisse und weiden sich auch noch daran, tja, muss biologistisch eben so sein, wie locke ich denn sonst Frauen an? Anzunehmen ist, dass, wenn Kommunikation zwischen den Geschlechtern ohne Geruch entstünde, die Cremaster sich schon längst vom sprichwörtlichen Acker gemacht, eine neue Galaxis gesucht hätten, buchstäblich ausgewandert wären und etwa auf dem Aldebaran (auf ihm wiegt ein Teelöffel vier Tonnen) mit wem oder was auch immer tanzten, in Frankreich nennt man übrigens den Hodenheber "Walzertänzer", das nur zur Info, wenn das Flirtgespräch zwecks Rettung des Fortbestands der Menschheit mal zu stocken droht.

Mit dem sozialen Luftraum meine ich aber etwas anderes, wem gehört beispielsweise der Raum um einen, wenn man geht, und jemand kommt einem entgegen? Wer weicht aus? Wie sensibel nimmt man dieses imaginäre Luftpolster um einen überhaupt wahr? Drängler, Schwadroneure und Beinspreizer nehmen nichts wahr, ihnen gehört der physische Luftraum, die müssen sich behaupten, das ist ihr Kompensationskapital für alles Mögliche, so wie Frauen ihrem angeblichen Körpergeruch mit dermatologisch fragwürdigen Essenzen freiwillig zusetzen, um den Luftraum um sich herum zu einem olfaktorischen Panzer zu machen, paradoxerweise kokett wie unpersönlich, oder als eine stumme, erzieherische Maßnahme gegen den Testosterondampf der nachlässigen Männer.

Ich habe beobachtet, dass der öffentliche Raum beim Gehen ganz stark erkennbar macht, wer wie aufmerksam ist, ob einen interessiert, was sonst noch so auf der Straße passiert, ob noch ein Mindestmaß an Neugier, Respekt und Empathie vorhanden ist oder man abgelenkt ist, weil der Luftraum sowieso als selbstverständlich wahrgenommen wird, wer soll einen bestrafen, wenn man hustet, laut lacht (das hässlichste Geräusch der Welt) oder in einen Hundescheißhaufen tritt, absichtlich nämlich, um dem letzten rückständigen Hundehalter mal zu zeigen, natürlich mit begleitenden Blicken der stummen Ermahnung, was für ein vorsätzliches Auslaufmodell er ist? Hier können Blicke (stumme Schreie) tatsächlich noch etwas ausrichten.

Ich verliere IMMER

Mich hingegen bestrafen ununterbrochen Menschen, die respektlos gehen oder nicht mal gehen können, also eine Luftwand aus Missachtung und Selbstgefälligkeit und, ja, auch aus Verachtung und Vorsatz vor sich herschieben, die nicht wissen, dass Luft Moleküle ist, und diese Moleküle durchaus spürbar sind, wie Nadelstiche, mir tun sie weh, und nicht nur mir.

In Tokio beispielsweise ist es so, dass an den großen Umsteigebahnhöfen wie Shinjuku und Shibuya – gigantische Aorten, durch die minütlich zehntausend Menschen gepumpt werden – niemals gerempelt wird, weil jeder Japaner einen eingebauten Radar hat, mit dem er alles im Umkreis von 20 Metern erfasst, auf etwaige Gefahrenquellen analysiert, etwa einen abrupt und ratlos stehen gebliebenen Touristen in kurzen Hosen und Sandalen, in der Regel Amerikaner, und man deshalb schon Zeit hat, seinen Gehfluss danach rechtzeitig auszurichten, so funktioniert der empathische Schwarm in Japan und verhindert Kollisionen, denn wenn sie diesen Radar nicht hätten, käme es ununterbrochen zu Massakern.

Man kann in unsrer egoistischen Gesellschaft die Benutzung des öffentlichen Raums leicht messen, auf dem Rüpel-O-Meter.

Geht jemand allein, gibt es immer die Möglichkeit der Einsicht, dass er oder sie mindestens vier Meter vor mir und ich vor seinem oder ihrem Gehradius einschätzt, wie unser Bewegungsverhalten sein wird, sodass man nicht kollidiert und den eigenen Luftraum einzuquetschen gezwungen wird, sehr einfach kann man das bei Betrunkenen abschätzen, auch wenn der Torkelfaktor unkalkulierbar ist, so misst man seinen Radius ab, schätzt ihn bereits von Ferne ein, um Kollisionen zu vermeiden.

Telefoniert diese eine Person allerdings, die einem entgegenkommt, wird es schwierig, weil das Hören wichtiger als das Sehen und Empfinden wird, da gibt's offenbar auch ein Sinnesranking, weswegen Telefonieren bei der Hinrichtung den Tod vermutlich milder macht, ich kann da leider nicht aus Erfahrung sprechen. Früher die letzte Zigarette, heute darfst du noch ein letztes Mal mit Mutti reden, etwa über Schuhe, ach nein, du hast ja deine Mutter mit ihrem Stöckelschuh lobotomiert, sorry, Kumpel, Zigarette?

Kommen einem zwei Menschen entgegen, hat man verloren, das wird schwierig, und umso mehr, wenn es ein verliebtes Paar ist, der Mann oder Junge hat übrigens immer das Mädchen oder die Frau als Rammbock neben sich, ausgewichen wird nicht, ich weiche aus, muss ausweichen, ich hab das ein paarmal versucht, wer kann länger nicht ausweichen, ich verliere IMMER, breche zusammen unter der Last der Energie der fragilen und trügerischen Liebe von ihnen und dem eiernden Dynamo, den ich auf meiner Seite anwerfen muss, um standzuhalten, das Paar hat das nicht mal mitbekommen, und denkt allenfalls: Was für ein Idiot. Interessanterweise war das Paargehverhalten früher anders, oder sollte anders sein, da hatte der Mann die Frau im oder am linken Arm, damit er die rechte Hand frei hatte, um sie zu schützen und den Weg frei zu fechten oder prügeln, das ist auch der Grund, warum bei Paaren die Frau stets links vom Mann schläft, das ist noch ein Überbleibsel aus jener Zeit, heute wird die Frau eben beim Paargehen als Waffe verwendet, aber vielleicht ist das den Frauen sogar im Sinne einer Gleichstellung ganz recht.

Unmöglich ist es, den öffentlichen, unantastbaren Luftraum zu verteidigen, wenn einem eine betrunkene Gruppe entgegenkommt, dickhosige Männer oder wacklige Frauen in Folterschuhen, weil in dieser Gruppe selbst schon ein archaisch hierarchisches Gruppenranking existiert. Die Stillsten also werden außen als Rammböcke instrumentalisiert, haben nichts zu sagen, sollen Typen wie mich aus dem Nukleus der gepanzerten Situation rauskicken, der Phalanx, die in dieser Form, wie sie von den Alphatieren der Gruppe als subliminale Botschaft mitgegeben wird, nie wiederkommen wird, also jedes Mitglied der Gruppe in diesem Moment unsterblich ist, wenn sie die Gunst der Stunde nur zu würdigen weiß und also jedes Recht hat, laut zu sein, und jeder Fremde ausweichen muss. So werden Länder erobert.

Essen und telefonieren

Milde sollte man walten lassen, wenn augenscheinlich rurale Stadtnovizen weder wissen, wie man eine Rolltreppe benutzt (rechts stehen, links gehen), noch dass man bei U-Bahn-Ausgängen nicht sofort stehen bleibt, um erst einmal gemütlich zu überlegen, wohin man möchte. Warum nicht gleich einen Klappsessel für solche Situationen mitnehmen? Essern und Telefonierern in U-Bahnen und Zügen droht das Schicksal der koprophilen Hundehalter, der Schwarm kommt drauf, dass er etwas falsch macht.

Abschließend, um noch einmal auf den Unrat im Netz und auf dem Trottoir zu kommen, ist es nicht auffallend, dass Schmeißfliegen drängeln, rangeln, rücksichts- und gesetzlos sind, also den Menschen gar nicht mal so unähnlich, auch im Essverhalten, aber hat man schon einmal eine Fliege gesehen, die mit einer anderen zusammengestoßen ist? Lasst uns also von ihnen lernen. (Tex Rubinowitz, 18.11.2018)