Brexit-Befürworter und -Gegner am Donnerstag in London

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Man wird bei der Beurteilung der Umsetzungschancen des Brexit-Vertrags wohl bis zur letzten Minute vor dem EU-Austritt Großbritanniens warten müssen. Derzeit scheint in London alles möglich. Auf keine Entscheidung dort ist wirklich Verlass. Alles ist nur vorläufig.

Nur wenige Stunden nach der von Premierministerin Theresa May verkündeten einhelligen Bestätigung des Abkommens in ihrem Kabinett gab Dominic Raab seinen Job als Brexit-Minister auf – aus Protest. Dieser dramatische Schritt führt den EU-Partnern die ganze Zerrissenheit der Tories vor Augen – sie geht bis an den Rand der Persönlichkeitsspaltung.

Man muss sich das vorstellen: Seit Sommer verhandelte May persönlich den Brexit. Aber der härteste Gegner waren offenbar nicht ihre EU-Partner auf der anderen Seite des Tisches – als "Feind im eigenen Bett" erweist sich ausgerechnet der von ihr in der Not ernannte Raab, weil auch Vorgänger David Davis kurzfristig alles hinschmiss.

Tag eins nach der Brüsseler Einigung legt also zwei Schlüsse nahe. Erstens: Die Chancen, dass dieser Brexit-Vertrag die Abstimmung im britischen Parlament Anfang Dezember überlebt, sind eher kleiner geworden. Das "Endspiel" bei den Tories beginnt erst. Und warum sollte Labour – die Opposition, deren Chef Jeremy Corbyn beim Brexit ambivalent ist – May den Gefallen tun, ihr den Kopf zu retten? Wenn der Brexit-Vertrag im Unterhaus scheiterte, ginge es nicht einfach zurück an den Start. Dann müsste sich die EU darauf einstellen, dass die Tory-Hardliner bis März einen No-Deal mit ungeordnetem EU-Austritt realisierten – verbunden mit viel Schaden auf beiden Seiten. May wäre erledigt.

Eine Variante: May flüchtet in Neuwahlen. Es kommt aber zu einem Regierungswechsel. Ein neuerliches Referendum wäre dann nicht ausgeschlossen. Die EU-27 wären kurz vor den EU-Wahlen in einer heiklen Lage, den Brexit vielleicht verschieben zu müssen, was per einstimmigen Beschluss möglich wäre.

Neben diesem Negativszenario gibt es – zweitens – den anderen, positiven Ausgang: Es gelingt May, den von ihr persönlich durchgedrückten Vertrag als "nationales Anliegen" durch das Unterhaus zu bringen. Dann hätte sie ein Ergebnis erreicht, das sie (die als Innenministerin 2016 gegen den Brexit war) seit dem Chequers-Plan, der zum Rücktritt Boris Johnsons führte, selbst immer wollte. Ähnliches hatten auch die Regierungschefs der EU-27 Barnier als Verhandlungsziel vorgegeben: den "weichen Brexit".

Der EU-Austritt würde so organisiert, dass Großbritannien der EU eng verbunden bliebe, indem man einen neuen modernen Freihandelsvertrag nach Ceta-Vorbild macht. 4,3 Millionen EU-Bürger, davon eine Million Briten, behielten ihre EU-Rechte im Gastland. London müsste in der großzügig bemessenen Übergangszeit Beiträge zahlen. Vorläufig ungelöst bliebe, wie man die Frage der offenen Grenze zwischen EU-Mitglied Irland und Nordirland als Teil des "halben EU-Mitglieds" Großbritannien löst.

Auch dabei setzt das 585-Seiten-Papier auf Zeitgewinn. Wenn das Königreich eine Freihandelszone ohne Zölle eingeht, erübrigt sich die Grenzfrage. Wenn nicht, wird Nordirland wieder zum gemeinsamen "Friedensprojekt" von EU und Drittland Großbritannien. Gemäß dem Karfreitagsabkommen könnte man dann alle Iren in Nord und Süd in einem Referendum befragen, ob sie sich wiedervereinigen wollen und wohin sie gehören wollen. (Thomas Mayer, 16.11.2018)