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Kanzler Adenauer, der spätere EWG-Kommissionspräsident Hallstein und Italiens Premier Segni 1957 bei der Unterzeichnung der Verträge zum gemeinsamen Markt, der zum beispiellosen Erfolg wird.

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Der Europäischen Union wird gern bürokratische Detailregulierung vorgeworfen, sie kümmere sich zwar um Glühlampen und Chlorhühnchen, eine zündende Vision des künftigen Europa könne sie jedoch nicht bieten; die alte Vision des Friedensstifters genüge längst nicht mehr, und selbst an Einigkeit mangele es schon seit längerem. Eine konkrete Vorstellung von der "zündenden Vision" haben allerdings auch die Kritiker nicht – schon deswegen, weil die Forderung zwar grundsätzlich richtig, jedoch zu ambitioniert ist und der Begriff zu abstrakt.

Wichtige Narrative ...

Robert J. Shiller war in seiner Nobelpreisrede bescheidener. In dieser zeigte er die Bedeutung des Narrativen für die Politik auf – zwar nicht von Visionen, wohl aber von "stories": "The human brain has always been highly tuned towards narratives ... Stories motivate and connect activities to deeply felt values and needs. Narratives ,go viral' and spread far, ... with economic impact."

Nun war die Europäische Union unzweifelhaft erfolgreich. Die Bürger profitieren vielfach: so etwa vom grenzenlosen Zahlungs- und Reiseverkehr, der gesicherten Lebensmittel- und Wasserqualität. Die Politik der Europäischen Zentralbank konnte – trotz der problematischen Restriktionspolitik der Mitgliedsstaaten – das Abrutschen der Finanzkrise in eine ernste Krise vermeiden.

Österreich hat der durch EU-Beitritt und Osterweiterung erschlossene größere Markt einen Exportschub gebracht: Nach den Schätzungen von Fritz Breuss wuchs das reale BIP pro Jahr um 0,5 bis ein Prozent schneller, und 18.000 Personen konnten pro Jahr zusätzlich beschäftigt werden.

... falsche Aussagen

Der EU gelang es aber nicht, ihre Erfolge in ein Narrativ, eine einfache und überzeugende Erfolgsstory zu kondensieren. Vielmehr grassiert eine zunehmende Angst vor nationalen Souveränitätsverlusten. Das Narrativ der Nationalisten – "We want to take back control of our laws" (Copyright: Theresa May / Donald Trump) – ist tatsächlich eine gute "story". Sie ist bloß falsch.

In den meisten Fällen ist nichts zurückzuholen, weil diese Teile der Souveränität bereits vor der EU als Folge der gestiegenen wirtschaftlichen Verflechtung verlorengegangen sind: Nationale Konjunkturpolitik beispielsweise ging verloren, weil zusätzliche Staatsausgaben via zusätzliche Importe zum erheblichen Teil ins Ausland abfließen (Sickerverluste). Die EU wurde nicht zuletzt deswegen geschaffen, um die Souveränität auf EU-Ebene zurückzugewinnen, die auf nationaler Ebene verlorengegangen war.

Es gälte daher, dem den Laien überzeugenden, aber falschen Souveränitätsnarrativ ein überzeugendes Gegennarrativ gegenüberzustellen. Als Ökonom fehlt mir natürlich die kommunikative Kompetenz, eine solche Story zu entwerfen – ich kann bloß auf mögliche Inhalte verweisen. Es müssten einige wenige typische Beispiele gefunden werden, in denen längst verlorene Elemente nationaler Pseudosouveränität durch supranationale europäische Souveränität erfolgreich wiedergewonnen werden konnten. Sie sollten durch Testimonials belegt werden.

EU-Souveränitätsstory

Grundsätzlich ist die nationale Souveränität auf zahlreichen Gebieten weitgehend verlorengegangen. Viele davon eignen sich allerdings nicht als Testimonials in der EU-Souveränitätsstory, sei es, weil auch die Europäische Union auf diesen Gebieten keine Souveränität erlangen kann, wie etwa bei Klimaschutz oder Immigrationsdruck, sei es, weil Politik, Medien und Bevölkerung die Wirkungsschwäche nationaler Alleingänge nicht erkennen und akzeptieren wollen. Dafür sind Budget- und Steuerpolitik gute Beispiele, bei denen die nationale Kompetenz trotz weitgehender Ineffektivität mit Zähnen und Klauen verteidigt wird.

Ein guter Bestandteil eines solchen Narrativs wäre jedoch die europäische Wettbewerbspolitik. Sie ist inzwischen erheblich wirkungsvoller als die amerikanische. In Bezug auf Wettbewerbspolitik lange führend, haben die Vereinigten Staaten von Amerika in den letzten beiden Jahrzehnten eine massive Konzentrationswelle zugelassen. Der abnehmende Wettbewerbsdruck führte zu höheren Preisaufschlägen, zu überhöhten Gewinnen, schwächeren Investitionen und zu schwächeren Exporten.

Trumps' Bauchgefühl der – trotz guter Konjunktur – amerikanischen Schwäche ist durchaus richtig, bei Ursachen und Therapie liegt er jedoch völlig falsch.

Hinter der laxen Kontrolle des Wettbewerbs in den USA steht der Druck der Politik, indirekt der Industrie, auf die Wettbewerbsbehörden. Die Konzerne lassen sich ihre Interventionen einiges kosten: Die Lobby-Ausgaben sind in den USA insgesamt doppelt, die der Industrie sogar dreimal so hoch wie in der Europäischen Union, die Wahlspenden werden sogar auf das Fünfzigfache geschätzt. Überdies lässt sich zeigen, dass die amerikanischen Lobbyisten deutlich erfolgreicher sind als die europäischen.

Forcierter Wettbewerb

Im Gegensatz zu den USA hat die Europäische Union den Wettbewerb massiv forciert. Die Konzentration hat deutlich abgenommen: Wettbewerbsbeschränkende Fusionen wurden unterbunden, Kartelle aufgehoben und Märkte dereguliert, die Strafen für Fehlverhalten massiv erhöht. Der Wettbewerbsdruck ließ die Preise sinken: So führte etwa die Konzentration der Telekom in den USA bei gleichzeitiger Dekonzentration in der EU dazu, dass die amerikanischen Preise für Breitband doppelt so hoch sind wie in Deutschland oder Frankreich. Ähnliches gilt für die Luftfahrt. "EU beschränkt die Macht der Konzerne" oder "EU schützt vor der Macht der Konzerne" könnte daher ein zugkräftiger Teil eines Narrativs für die Europäische Union sein.

Der Erfolg der europäischen Wettbewerbspolitik resultiert aus der Unabhängigkeit der übernationalen Behörde. Anders als bei nationalen Behörden ist ihr Leiter von politischen Einflüssen relativ gut abgeschirmt: Er kann nicht leicht abgesetzt werden, und Interventionsversuche eines Landes führen zu Gegenreaktionen der Konkurrenzländer. Nicht zuletzt wegen ihrer geringeren Erfolgsaussichten ist die Zahl der Lobbyisten in der Europäischen Union deutlich geringer als in den USA, und sie konzentrieren sich eher auf die Umweltpolitik (Autolobby!), wo es eben keine unabhängige Behörde und daher mehr Einflusspotenzial gibt.

Unabhängige Behörden

Der Erfolg der europäischen Wettbewerbspolitik liegt evidentermaßen in der Unabhängigkeit der Wettbewerbsbehörde. Sie kann, was der politische Druck in Einzelstaaten erschwert. Warum aber ließen die Mitgliedsstaaten die Einsetzung einer unabhängigen, supranationalen Behörde zu, auf die sie – anders als zu Hause – keinen (politischen) Einfluss haben? Die Antwort ist wohl darin zu suchen, dass die Politiker die Nachteile wettbewerbsbeschränkender Maßnahmen im konkurrierenden Ausland höher einschätzen als die Vorteile, die sie durch Interventionen im Inland erreichen könnten.

Vielleicht sind viele Politiker aber auch über die geringere Zahl von Interventionen froh, von denen sie ahnen mögen, dass sie zwar kurzfristigen Partikularinteressen entsprechen, gesamtwirtschaftlich aber problematisch sind. Wie im Fall der EZB zeigt auch die Wettbewerbspolitik: Souveränitätsverzicht kann Vorteile bringen. (Gunther Tichy, 16.11.2018)