Nach 8…Sxe2: Drei Springer für ein Halleluja.

Nach 41… Lxd4: Die zentralisierten Leichtfiguren geben Schwarz Gewinnchancen.

Nach 68.Lc4: Computer setzen hier mit Schwarz in 36 Zügen matt – angeblich.

1/2-1/2 nach 80…Lxh6. Weiß wird seinen Läufer für den letzten schwarzen Bauern opfern, bevor dieser die Grundreihe erreicht.

Magnus Carlsen hatte schon mehr Spaß beim Schachspielen.

Foto: Ivan Mudrov

London – Da sage noch einer, dass Remispartien langweilig sind. Magnus Carlsen und Fabiano Caruana spielen an diesem Freitagabend in Runde sechs der WM zum sechsten Mal remis. Trotzdem bleibt diesmal kein Auge trocken.

Russisches Springerballett

Aber alles der Reihe nach: Am Anfang steht Carlsens 1. e4, jener Eröffnungszug, der schon in den ersten beiden Weißpartien des Weltmeisters erwartet worden war. Caruana verteidigt sich Russisch, auch das keine Überraschung. Die kommt erst im vierten Zug des Weißen. Da zieht Magnus Carlsen seinen Springer nämlich nach d3 anstatt nach f3 zurück, wo jeder Schachlehrer den Gaul gerne stehen sähe, weil er dort die Entwicklung der übrigen weißen Figuren nicht behindert.

Natürlich ist diese Idee nicht ganz neu. Das ungarische Kreativgenie Richard Rapport etwa, für seine kakophonischen Eröffnungseinfälle berüchtigt, hat schon öfters so gespielt. Carlsen allerdings schwebt nichts allzu Kreatives vor, wie seine nächsten Züge zeigen. Er will hauptsächlich die Damen tauschen und dabei eine Figurenkonstellation aufs Brett bekommen, die Fabiano Caruana nicht schon hunderte Male gesehen hat.

Der österreichische Großmeister Markus Ragger analysiert die sechste Partie der Schach-WM 2018.
Österreichischer Schachbund

Was daraus resultiert, ist ein merkwürdig anmutendes Springerballett, bei dem sich nach zehn Zügen alle vier Rössel im Spiel befinden, während der Rest der beiden Armeen auf seinen Ausgangsfeldern verharrt. Das sieht zugegeben lustig aus, bringt Weiß aber keinerlei Vorteil. Nach etwa 20 Zügen steht eine Struktur am Brett, wie sie auch aus der wenig inspirierenden Französischen Abtauschvariante hervorgehen hätte können. Kann Carlsen mit seinen geringfügig aktiveren Figuren hier noch Druck entfalten?

Vorteil Caruana

Die Antwort lautet: Absolut nicht. Mit 21...c5 wird Fabiano Caruana im richtigen Moment aktiv. Als der Weltmeister zu langsam reagiert, gelingt Schwarz die mühelose Mobilisierung all seiner Figuren. Ein, zwei Ungenauigkeiten des Weißen später droht der Nachziehende sogar schon, ein gewinnträchtiges Endspiel mit Mehrbauer zu erreichen.

Carlsen setzt seine Defensivmütze auf, kniet sich in die Partie und findet einen Weg, den schwarzen Bauern auf h5 zu inhalieren, wodurch ihm ein Minusbauer vorläufig erspart bleibt. Aber er muss dafür seinen Bauern d4 aufgeben. Die zentralisierten schwarzen Kräfte Caruanas drohen nun, ihrem Kumpel auf d5 die Mauer zu machen, der sich nur zu gerne zur Feier des Tages auf d1 in eine Dame verwandeln würde. Auch die schutzlosen weißen Bauern am Damenflügel könnten bald zur knusprigen Beute der schwarzen Figuren werden.

Sie nannten ihn Mücke

All dem kann Carlsen nicht tatenlos zusehen, also entscheidet er sich für radikale Maßnahmen. Der Weltmeister gibt eine Leichtfigur für insgesamt drei Bauern, numerisch ein durchaus fairer Tausch. Nur leider hat Weiß dabei übersehen, dass er einen der Bauern in der Folge gleich wieder verliert. So bleiben ihm also nur noch zwei Bauern als Pfand für die aufgegebene Figur.

Und bald muss Carlsen einsehen, dass auch sein freier a-Bauer den Heldentod sterben muss, wenn er noch irgendeine Chance haben will, die beiden verbliebenen Fußsoldaten seines Gegners abzutauschen und damit den rettenden Remishafen zu erreichen.

"Das Schachspiel ist ein See, in dem eine Mücke baden und ein Elefant ertrinken kann", sagt ein indisches Sprichwort. Die Weisheit dieses Satzes, sie zeigt sich wieder einmal in jenem Schlussspiel, das die beiden Kontrahenten sowie die gesamte Schachwelt an diesem Freitagabend mehrere Stunden lang in Atem hält.

Denn die längste Zeit weiß niemand, ob die entstandene Konstellation für Fabiano Caruana bei bestem Spiel zu gewinnen oder für Magnus Carlsen bei bestem Spiel remis zu halten ist. Die beiden Spieler wissen es nicht, wie ihre ratlosen Gesichter verraten. Kommentatorin Judit Polgár weiß es nicht, wie sie bald offen eingesteht. Und selbst die mitrechnenden Computerprogramme haben keinen Tau. Zwar zeigen sie mal mehr, mal weniger Vorteil für den Herausforderer an. Aber was heißt das konkret?

Festungsglaube

Nur noch sechs Figuren plus die beiden Majestäten sind zu diesem Zeitpunkt auf dem Brett verblieben. Dennoch ist die Stellung so kompliziert, dass beide Spieler bei der Berechnung der zahllosen möglichen Varianten immer wieder die Augen schließen, um die Konzentration zu steigern und in den einander nur scheinbar gleichenden Abspielen ja nichts zu übersehen.

Als Magnus Carlsen selbstbewusster zu ziehen beginnt und Fabiano Caruana immer enttäuschter aussieht, geht unter den Zuschauern und Kommentatoren eine Vermutung um: "Ist es eine Festung?", murmeln Patzer wie Großmeister einander zu.

Endspielfestungen, das sind jene oft unwahrscheinlich anmutenden Verteidigungsformationen, von denen Magnus Carlsen anlässlich seines WM-Kampfes gegen Sergei Karjakin polemisch sagte, er glaube eigentlich nicht an ihre Existenz. Er habe nämlich die Erfahrung gemacht, so Carlsen damals, dass er Festungen meistens doch erstürmen könne.

An diesem Abend aber muss der Weltmeister inständig hoffen, dass seine eigene Festung hält. Sein Herausforderer lässt seine Figuren kreisen, versucht doch noch einen Weg zu finden, den weißen König aus seinem Versteck zu vertreiben, ihn darin zu mattieren oder aber einen der letzten beiden Bauern zu erobern, die Carlsen noch geblieben sind.

Sesses Matt in 36

Als der Glaube an Caruanas Siegchancen nach und nach schwindet, verbreitet sich plötzlich eine Nachricht wie ein Lauffeuer: Ausgerechnet der norwegische Supercomputer "Sesse" soll ein Matt in 36 Zügen erspäht haben, das Magnus Carlsen auch bei bester Verteidigung nicht verhindern kann! Zwei Züge später ist die hypothetische Möglichkeit, die zu diesem Zeitpunkt kein Mensch nachvollziehen kann, aber auch schon wieder perdu. Caruana probiert es noch ein wenig, dann schickt er sich nach 80 Zügen und sechseinhalb Stunden Spielzeit erschöpft in das nun unvermeidliche Remis.

Bei der Pressekonferenz versuchen die mit dem Computerfund konfrontierten Spieler zu verstehen, wann und wie Fabiano Caruana die Partie hätte gewinnen können. Sie einigen sich bald, dass es eine zufällig aufblitzende Möglichkeit war, eine Nadel im mathematischen Heuhaufen der fast unendlichen Möglichkeiten.

"Es ist doch ganz gut, dass Festungen existieren", sagt ein schmunzelnder Carlsen dann noch. Und verabschiedet sich wie sein Kontrahent in einen wohlverdienten Ruhetag zur Halbzeit dieses WM-Kampfes, dessen Ausgang kein Supercomputer der Welt vorhersagen kann.

Es steht 3:3. Am Sonntag wird die WM mit Partie sieben fortgesetzt. Magnus Carlsen führt dann zum zweiten Mal in Folge die weißen Steine. (Anatol Vitouch aus London, 16.11.2018)