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Sie haben keinen Chef und keine Oberleitung, aber sie haben eins: "La colère", die Wut. Zigtausende Bürger, meist nicht zu den wohlhabendsten des Landes gehörend, haben am Wochende spontane Straßensperren errichtet. In Aix-en-Provence rief eine Büroangestellte namens Arlette in die Mikrophone der verdutzten Journalisten: "Es geht nicht nur ums Benzin, wir haben generell die Nase voll!"

Die Bilanz des ersten Protesttages gab Innenminister Christophe Castaner am Sonntag bekannt: Eine tote Blockiererin von 63 Jahren, überfahren in Savoyen von einer inzwischen verhafteten Lenkerin eines Geländewagens; 409 teils schwer verletzte Beteiligte, darunter 28 Polizisten. "Die Nacht war bewegt", sagte Castaner. "Es gab Aggressionen, Schlägereien, Messerstiche. Vereinzelt war Alkohol im Spiel."

280.000 auf der Straße

Laut Castaner nahmen 280.000 Personen an den 3000 teils wilden Straßenblockaden teil. Gesperrt wurden Autobahn-Zahlstellen und -zubringer, Tankstellen und sogar Supermärkte. Mit "Schnecken-Operationen" auf den Ringautobahnen von Caen, Toulouse oder Rennes brachten die Gelbwesten andere Autofahrer in Rage.

Was Castaner nicht sagte: In Paris versuchten in der Nacht auf Sonntag Hunderte, in die Nähe des Elysée-Palastes zu gelangen. Ob der Präsident dort war, wollten seine Berater nicht sagen. Die Polizei hatte alle Hände voll zu tun, die "gelben Westen" – wie sie sich wegen der in französischen Autos obligatorischen Notfallwesten nennen – mit Tränengas und Eliteeinheiten in Schach zu halten.

Emmanuel Macron wusste seit Wochen, dass sich im Land etwas zusammenbraut. Anlass ist die Erhöhung der Steuern und damit der Preise für Benzin (vier Prozent) und Diesel (sieben Prozent). Das soll mittelfristig eine Angleichung der Preise erlauben und einen Beitrag gegen die Klimaerwärmung leisten, erklärte Macron vorige Woche. Der landesweit spür- und hörbare Unmut rührt vom Gefühl vor allem der Landbevölkerung, immer mehr Steuern und Abgaben zahlen zu müssen, ohne davon zu profitieren.

Reformen kommen nicht an

Macron hatte im Präsidentschaftswahlkampf versprochen, die Wohnsteuer abzuschaffen; jetzt streckt er diesen Prozess aber auf drei Jahre.

Ganz allgemein haben die Franzosen den Eindruck, dass die Macron’schen Reformen sie nicht erreichen. Ein fünfminütiges Video einer bisher unbekannten Hypnotherapeuting namens Jacline Mouraud wirkte wie ein auslösendes Moment: Darin wirft die Akkordeonspielerin aus der Bretagne dem Staatschef im Elysée-Palast vor, er schaffe sich teures Geschirr und einen Swimmingpool an und erhöhe dafür die Steuern. Die ärmsten Leute kämen nicht mehr mit beim Bezahlen der Steuern, die ihnen der "Präsident der Reichen" – Macron – aufhalse.

Die Pariser Medien vergleichen den Benzin-Aufstand mit den zahlreichen "Jacquerien" der französischen Geschichte, den schlecht organisierten Bauernaufständen zwischen 1382 und 1675, die durchwegs fiskalische Gründe wie die "gabelle" (Salzsteuer) hatten und von der Monarchie jeweils brutal erstickt worden waren. Macron ließ die Bewegung weitgehend gewähren. Am Samstag noch hatten in Umfragen 76 Prozent der Franzosen Sympathie mit den Gelbwesten geäußert.

Regierung bleibt stur

Die Regierung will trotz der Massenprotesten an der höheren Treibstoffsteuer festhalten. Man habe "die Wut" und "das Leid, die Perspektivlosigkeit" erkannt, ihr Kurs sei aber "gut und wir werden ihn halten", sagte Premierminister Edouard Philippe am Sonntagabend im Fernsehsender France 2.

Zustimmung auf Tiefstand

Macron hingegen verlor am Sonntag in einer neuen Erhebung weiter Boden, kommt er doch bloß noch auf eine Zustimmungsrate von 25 Prozent (minus vier Prozent). Das ist ein neuer Tiefstand. Auch viele seiner Wähler werden ungeduldig, da seine Arbeitsmarkt- und Bahn-Reformen keine Wirkung auf die Konjunktur zeitigen; die Arbeitslosigkeit ist im Oktober sogar gestiegen.

Die Ökonomen sind sich indes einig, dass die Reformwirkung erst ab 2020 greifen werde. Vor allem rechte Parteien versuchen, die Bewegung für sich zu vereinnahmen. Der Chef der Konservativen, Laurent Wauquiez rief zu Steuersenkungen auf, ohne zu sagen, wo er im Gegenzug sparen würde.

Die Rechtsextremistin Marine Le Pen stellt sich ebenfalls hinter die "Volksbewegung". Dabei schiebt sie sich nicht in den Vordergrund: Sie weiß, dass sich der Zorn der Blockierer gegen alle Politiker richtet, und dass sie auch ohne viel Dazutun profitieren wird, wenn ihr Hauptgegner Macron in die Bredouille gerät.

Wie die Proteste ausgehen werden, vermag derzeit niemand zu sagen. Macron will in der Sache hart bleiben; als Entgegenkommen hat er die Abwrackprämie für Geringverdiener auf 4000 Euro pro entsorgtes Diesel-Altfahrzeug erhöht.

Umweltminister François de Rugy forderte am Sonntag Alternativen für Erwerbstätige, die auf ihr Auto angewiesen seien. Die eben reformierte Staatsbahn baut aber derzeit eher Lokalstrecken ab. (red, Stefan Brändle aus Paris, 18.11.2018)