Librettist Durs Grünbein und Komponist Johannes Maria Staud über ihre Oper "Die Weiden": "Es ist keine eskapistische Oper. Wir wollten Flagge zeigen und mischen uns ein."

Foto: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Bald ist es so weit. Endlich. Endlich passiert das, wovon man in den ersten acht Jahren der Direktionszeit von Dominique Meyer leider nur träumen durfte: An der Wiener Staatsoper gibt es eine Uraufführung abseits des Kinderopernsektors.

Und dann auch noch eine, die neben musikalischer Qualität auch noch politische Aktualität und Brisanz bietet. Librettist Durs Grünbein beschreibt die Oper Die Weiden als "eine Expedition in das Herz Europas, eines neuerdings wieder zerrissenen Kontinents", Komponist Johannes Maria Staud, Grünbeins langjähriger künstlerischer Kompagnon, legt noch eins drauf und sieht die Unternehmung in Anlehnung an Joseph Conrad als eine Reise ins "Herz der Finsternis".

"Sie nennen es Mythos: Ihre schwarze Geschichte"

Über die Folie der Horrorgeschichte The Willows von Algernon Blackwood hat Grünbein die Geschichte eines jungen Paares gelegt: Lea und Peter unternehmen eine längere Kanufahrt auf einem europäischen Strom, der Dorma, die sie in Peters Heimat führt. Aus dieser Gegend – "ein altes Mörderrevier", "geduldiger Boden, mit Blut getränkt" – mussten Leas Vorfahren vor langer Zeit fliehen. "Sie nennen es Mythos: / Ihre schwarze Geschichte", wird Lea gegen Ende der Oper singen.

Doch die Geister der Vergangenheit scheinen erneut ihr Haupt zu erheben: Da gibt es etwa den reaktionären Komponisten Krachmeyer, ein Staatspreisträger, der das "arme Abendland" bedauert, das in "einer Flut, einem Überfluss / Fremder Stimmen und Rhythmen" versinke. Da gibt es den an einen Pegida-Sprecher erinnernden Demagogen, der auf einem Marktplatz eine aufgebrachte Volksmenge vor Terroristen und Schmarotzern warnt, welche, "als Asylanten, Migranten getarnt", in Massen kämen und Gärten und Flure verwüsteten. Und ein Oberförster, der auf einen Flüchtling trifft, stellt klar: "Das hier ist mein Revier. / Fremdes Wild macht / Den schönen Wald krank. / Fremdes Wild wird / Zur Strecke gebracht. / Das nenn ich Hygiene."

Sumpfbraune Fluten

Die "sumpfbraunen" Fluten steigen und steigen – metaphorisch wie auch real. "Der Strom erwacht", stellt Krachmeyer bei der Kundgebung des Demagogen befriedigt fest: "Die Fluten sagen: / Wir sind wieder wer." Aber auch die Dorma schwillt immer weiter an und tritt über ihre Ufer. "Der Strom / Zeigt sein wahres Gesicht" singt Lea. Ein befreundetes Paar von Lea und Peter kommt dabei ums Leben, Peter springt freiwillig ins wilde Wasser.

Man sieht: Es finden sich realpolitische Anklänge im Werk. "Es ist keine eskapistische Oper", konstatiert Johannes Maria Staud im Pressegespräch. "Wir wollten Flagge zeigen und mischen uns ein." Durs Grünbein stellt Prinzipielles fest: "Es ist der Fall der globalen Migration eingetreten, und das betrifft auch kerneuropäische Länder. Da erleben wir täglich den politischen Streit darüber."

"Schamlosigkeit im politischen Diskurs"

Dieser Streit habe in den letzten Jahren die gesamte politische Landschaft verändert. Der gebürtige Dresdner und Büchner-Preisträger fügt hinzu: "Ich beobachte in der letzten Zeit eine gewisse Schamlosigkeit im politischen Diskurs, auch gegenüber der Geschichte." Geschichtliches ist auch in das Werk eingeflossen, wenn auch nur indirekt. Zu Beginn ihrer Arbeit an diesem Projekt trafen sich Staud und Grünbein an der Donau bei Hainburg. Hier und im nahen Engerau hat in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs ein Massaker an hunderten Juden stattgefunden, die von SS-Männern erschossen oder in die Donau getrieben wurden. Es solle nicht vergessen werden, dass der Boden unserer Kulturlandschaft auch mit Blut getränkt sei.

Den der blutgetränkten heimatlichen Scholle verbundenen Komponisten Krachmeyer – übrigens eine Sprechrolle – beschreibt der Komponist Staud als einen "Steve Bannon der Musik, er ist ein Rechtsintellektueller, der Geschichte umdeutet. Diese Leute kriechen zurzeit wie die Ratten aus ihren Löchern. Sie bereiten den rechtspopulistischen Parteien einen intellektuellen Untergrund", erregt sich Staud. Das politische Umfeld in Österreich empfindet der 44-Jährige dann auch als "widerwärtig".

Elektronische Passagen

Seine Musik soll den Operngeher aus dem "Alltagswahnsinn", der hier herrsche, entheben und in eine andere Welt entführen. Was kann er über seine Musik zu den Weiden verraten? Das Orchester würde den Graben fast sprengen, meint Staud über die Besetzung seiner dritten Oper: "Es ist fast ein Monster geworden, das Ganze." Zusätzlich zum umfangreichen Orchesterapparat gibt es Zuspielungen und live elektronische Passagen, die von vier tiefen Instrumenten gespeist werden. Manchmal werden die Stimmen elektronisch verfremdet, im Normalfall wird allerdings unverstärkt gesungen.

Staud hat auch zwei Songs geschrieben (etwa beim Hochzeitsfest von Edgar und Kitty), die den Zuhörer auf eine andere Ebene entführen sollen, und er hat erstmals Zitate eingebaut: zwei an der Zahl von Richard Wagner, zu dem in der schwarzen deutschen Romantik alle Wege führen würden, so der Österreicher. In seinen Kompositionen sei ihm eine gewisse Unmittelbarkeit wichtig, erklärt Staud Grundsätzliches. Er folge meist einem Narrativ, baue aber auch gern Falltüren ein.

Unabwendbare Naturgewalt

Wenn man die politische Aktualität der Oper in Betracht zieht: Halten es der Komponist und der Librettist für möglich, dass es bei der Uraufführung am 8. Dezember zu einem Heldenplatz-ähnlichen Momentum kommen wird? Thomas Bernhards Theaterstück wurde vor fast genau 30 Jahren unter großen Protesten erstmals am Burgtheater aufgeführt. "Die Möglichkeit eines Echauffierens ist durchaus gegeben – und miteinkalkuliert", gesteht Staud. Den Erregungsfaktor könne man nicht steuern, meint Grünbein. "Das machen die Medien."

Schade nur, dass im Libretto der Oper eine gesellschaftlich-politische Bestandsaufnahme durch die Verknüpfung mit einer Horrorgeschichte banalisiert und das Phänomen der erstarkenden Rechten mit dem Bild einer unabwendbaren Naturgewalt verbunden wird. Jedenfalls darf man gespannt sein, in welcher Weise die Gegenwart im braven Opernmuseum der Wiener Staatsoper bei der Uraufführung ihre Stimme erheben wird – und ob sie sich danach für oder gegen das Werk ausspricht. (Stefan Ender, 20.11.2018)