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Beherzt aber am Ende doch Remis.

Foto: AP/Dunham

Nach 3. d4: Endlich! Der ersehnte Offene Sizilianer

Nach 12. Ld2!?: Weiß hat am Damenflügel eine Bauern-Majorität, Schwarz am Königsfügel.

Nach 23…Ld6: Mit 24. h3? vergibt Caruana seine Gewinnchancen

1/2-1/2 nach 38. Tg5: Die ungleichfarbigen Läufer sichern das Remis.

London – Weiß ist also doch okay! In den Partien eins bis sieben dieses WM-Kampfes war es, wenn, dann Schwarz gewesen, der Vorteil für sich hatte reklamieren können. Egal ob die schwarzen Steine von Fabiano Caruana oder Magnus Carlsen geführt worden waren. In Partie acht wird dieses Muster nun erstmals durchbrochen – zur Freude der Schachwelt, die endlich eine Partie zu sehen bekommt, in der der weiße Anzugsvorteil in eine greifbare Initiative umgemünzt wird.

Endlich Sweschnikow

Es ist Fabiano Caruana, der an diesem Montag Weiß hat und sich im dritten Zug ein Herz nimmt: In seiner vierten Weißpartie ergreift der Amerikaner zum ersten Mal die Chance, Magnus Carlsens Sizilianischer Verteidigung mit 3. d4 zu begegnen. Dieser Zug führt zum sogenannten Offenen Sizilianer, einer Variante, die sich in unzählige Systeme und Subsysteme verzweigt und für scharfe Partien mit Tendenz zu heftigen Königsangriffen berüchtigt ist.

Der österreichische Großmeister Markus Ragger analysiert die achte Partie der Schach-WM 2018.
Österreichischer Schachbund

Magnus Carlsen wiederum wählt aus den verschiedenen Antwort-Möglichkeiten die sogenannte Sweschnikow-Variante, einen strategisch komplexen Aufbau, bei dem Schwarz einen rückständigen Bauern auf d6 in Kauf nimmt, dafür aber oft starken Angriff am Königsflügel erhält.

Im siebenten Zug zeigt Caruana dann, dass er nicht vorhat, sich in die unwahrscheinlich tief ausanalysierten Varianten der mit 7. Lg5 beginnenden Hauptlinie des Sweschnikow-Sizilianers zu begeben. Nach Caruanas 7. Sd5 und dem folgenden Springertausch kann Weiß die schwarze Schwäche auf d6 nicht mehr so leicht angreifen wie zuvor. Auch in dieser Nebenvariante entsteht jedoch eine prononciert asymmetrische Bauernstruktur, die allzu schnelle Vereinfachungen unwahrscheinlich macht und damit beiden Seiten ein Spiel auf den vollen Punkt ermöglicht.

Caruana drückt

Und das wollen nicht nur die Zuschauer sehen. Das braucht auch Fabiano Caruana, wenn er hier in London Weltmeister werden will! Carlsen wird nicht von alleine umfallen, der Herausforderer wird ihn schon ausknocken müssen. Der Offene Sizilianer ist dafür wohl nicht die schlechteste Wahl.

Was außerdem bald auffällt: Endlich einmal hat sich in diesem für die Anziehenden bisher verkorksten Match ein Weißspieler erfolgreich und effektiv auf jene Variante vorbereitet, die tatsächlich aufs Brett kommt. Caruana spielt schnell und selbstbewusst, Carlsen hingegen lässt sich Zeit und beginnt bald, Gesichter zu schneiden.

Zum Beispiel, nachdem sein Gegner mit 12. Ld2!? die allzu ausgetretenen Pfade endgültig verlässt und den Weltmeister in einer hochkomplexen Stellung zwingt, seinen eigenen Kopf zum Denken einzusetzen, anstatt nur sein famoses Gedächtnis zu bemühen.

Scharfe Kost

Während Caruana einen Springer auf b6 installiert, der den schwarzen Damenflügel lähmt, stößt Carlsen seine Bauernmajorität am Königsflügel vor. Das ist beiderseits konsequent und spitzt die Lage weiter zu. Wer mahlt hier zuerst? Wird Caruana seine Damenflügelbauern flott machen und Carlsen überrollen, bevor der noch seine Entwicklung abgeschlossen hat? Oder reißt der Weltmeister bald unter Bauernopfer Caruanas Königsstellung auf und inszeniert einen typischen sizilianischen Mattangriff?

Einen Moment lang scheint beides möglich. Dann aber wird klar, dass der Weißspieler die Stellung nach 18 Zügen besser kennt, sie vielleicht sogar noch vor Beginn der Partie auf seinem Analysebrett stehen hatte. Fabiano Caruana hat zu diesem Zeitpunkt nämlich immer noch kaum Bedenkzeit verbraucht. Carlsen hingegen ist schon die Hälfte seiner 100 Minuten für die ersten 40 Züge abhandengekommen.

Und der Weltmeister steht vor einem doppelten Problem: Er muss einerseits, dem Geist der Stellung entsprechend, aktiv spielen und darf scharfen Varianten nicht ausweichen. Andererseits läuft er mit jedem prinzipiellen Zug Gefahr, sich tiefer in das Variantengestrüpp der computerunterstützten Vorbereitung seines Kontrahenten zu begeben. Was potenziell tödlich sein kann.

Caruanas Großchance

Im 21. Zug verbraucht der Herausforderer dann doch 35 Minuten seiner Bedenkzeitreserve. Aber die Nachdenkpause ist klug gewählt: Mit 21. c5! opfert Caruana einen Bauern, befördert seinen d-Bauern damit jedoch zum gefährlich Freibauern, auf den Carlsens Figuren nun wie die Haftlmacher aufpassen müssen.

Nicht nur zeigen zu diesem Zeitpunkt die mitrechnenden Computerprogramme großen Vorteil für Weiß an. Auch alle Experten sind sich einig, dass Caruana soeben eine starke Initiative entfaltet und dabei ist, Carlsen an den Rand einer Niederlage zu bringen.

Doch just in diesem Moment greift der Amerikaner daneben. Mit dem zögerlichen 24. h3? verschafft er seinem Gegner einen Zug lang eine Atempause, anstatt die schwarze Dame mit 24. Sc4 an die Verteidigung des Läufers d6 zu binden oder mit 24. Dh5 seine eigene Königin in den Angriff einzuschalten.

Carlsen hellwach

Mehr als diese Chance braucht der Norweger nicht. Fast ohne nachzudenken antwortet Magnus Carlsen mit 24... De8!, was die norwegische Dame auf Kurs zum Königsflügel bringt. Auf einmal arbeiten die schwarzen Kräfte harmonisch zusammen. Jetzt ist es schon Weiß, der aufpassen muss, dass er für den geopferten Bauern genügend Kompensation behält.

Also sieht Caruana ein, dass ihm sein Vorteil zwischen den Fingern zerronnen ist. Er schaltet auf Remissicherung um, sprengt die schwarze Bauernmajorität am Königsflügel und tauscht die Damen. Auch wenn weitaus nicht alle Endspiele mit je einem Turm und ungleichfarbigen Läufern remis sind – dieses ist es ganz bestimmt.

Kurz gönnen die Kontrahenten sich noch den Spaß, mit ihren Türmen in das jeweilige Hinterland des Gegners einzudringen. Dann aber werden die Hände geschüttelt und die Uhren abgestellt.

Kopf an Kopf

Fabiano Caruana wirkt nach der Partie nicht übermäßig enttäuscht, eine große Chance auf den ersten vollen Punkt in diesem Match ausgelassen zu haben. Womöglich zu Unrecht: Nur noch vier Partien klassisches Schach bleiben dem Herausforderer, um das Match ohne Schnellschach-Tiebreak für sich zu entscheiden.

Der Dienstag ist ein Ruhetag. Die neunte Partie folgt am Mittwoch um 16 Uhr MEZ. Magnus Carlsen führt dann die weißen Steine. Es steht 4:4. (Anatol Vitouch, 19.11.2018)

Schach-WM in London, Notation der 8. Partie

Weiß: Fabiano Caruana (USA) – Schwarz: Magnus Carlsen (NOR) 0,5:0,5

Notation: 1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 e5 6.Sdb5 d6 7.Sd5 Sxd5 8.exd5 Sb8 9.a4 Le7 10.Le2 0-0 11.0-0 Sd7 12.Ld2 f5 13.a5 a6 14.Sa3 e4 15.Sc4 Se5 16.Sb6 Tb8 17.f4 exf3 18.Lxf3 g5 19.c4 f4 20.Lc3 Lf5 21.c5 Sxf3+ 22.Dxf3 dxc5 23.Tad1 Ld6 24.h3 De8 25.Sc4 Dg6 26.Sxd6 Dxd6 27.h4 gxh4 28.Dxf4 Dxf4 29.Txf4 h5 30.Te1 Lg4 31.Tf6 Txf6 32.Lxf6 Kf7 33.Lxh4 Te8 34.Tf1+ Kg8 35.Tf6 Te2 36.Tg6+ Kf8 37.d6 Td2 38.Tg5

Zwischenstand nach acht Partien: 4,0:4,0