Im Netzwerk des Krebses: Bioinformatiker simulieren, welche Genveränderungen einen Tumor auslösen.

Foto: Getty Images / iStock tonaquatic

Stanford-Forscher Johannes Reiter ist der Entstehung von Krebs auf der Spur.

Foto: Rafeala Pröll

Die Krebszellen klar im Visier, ohne gesundes Gewebe zu belasten: Das ist die Aufgabe zielgerichteter Therapien, die noch verhältnismäßig neu in der Krebsbehandlung sind. Da sie ganz spezifisch angreifen, sollen weniger Nebenwirkungen entstehen. Die Therapie wird auf den einzelnen Patienten zugeschnitten, indem das passende Medikament für das vorab untersuchte Tumorgewebe gewählt wird.

Ein Problem, das dabei nicht selten auftritt, ist das Ausbilden einer Resistenz: Während die Behandlung augenscheinlich anschlägt und der Tumor immer kleiner wird, können im Hintergrund unbemerkt resistente Zellen heranwachsen. Nach einer scheinbaren Pause kehrt der Krebs zurück. Anstelle dann erst mit einem weiteren Medikament fortzufahren, sehen einige Forschende große Chancen in der gleichzeitigen Anwendung zweier zielgerichteter Therapien von Anfang an.

Einer von ihnen ist der Bioinformatiker Johannes Reiter, der aktuell in Stanford am Canary Center für Krebsfrüherkennung forscht. Bereits in seiner Dissertation am Institute for Science and Technology (IST) Austria, die nun nachträglich mit dem "Wissen schaf[f]t Zukunft"-Preis des Landes Niederösterreich für den Themenkomplex Ernährung, Medizin und Gesundheit ausgezeichnet wurde, befasste er sich mit dem Thema.

In einer seiner ersten Forschungsarbeiten 2013 stellte er ein mathematisches Modell auf, um den Vorteil einer solchen doppelten zielgerichteten Therapie zu berechnen. Das Ergebnis: "Wenn man eine gute Kombination findet, bei der keine gleichzeitige Resistenz gegenüber den beiden Medikamenten entsteht, sagt die Simulation voraus, dass die meisten Patienten geheilt werden könnten." Damit wäre die Methode wesentlich effektiver als eine Anwendung der Mittel nacheinander.

Stammbaum für Krebszellen

Um mehr über die Charakteristika von Krebs in Einzelpersonen herauszufinden, rekonstruiert Reiter sozusagen den Stammbaum der Krebszellen. Ausgehend von Tumorproben eines Patienten wird ein Mutationsprofil erstellt, um die Entwicklung der Krankheit im Laufe der Jahre oder sogar Jahrzehnte nachvollziehen zu können: Die Genmutationen, die in den Krebszellen auftreten, und die Metastasen, die sich vielleicht abseits des Primärtumors in verschiedenen Teilen des Körpers entwickelt haben.

Eine weitere große Herausforderung in der Behandlung ist die Tatsache, dass bei jeder Teilung einer Krebszelle durchschnittlich fünf neue Mutationen entstehen. In vielen Fällen haben die Genveränderungen keinen entscheidenden Effekt, doch sie können auch beispielsweise zu Resistenzen gegenüber Medikamenten führen.

"Durch diese Heterogenität stellt sich auch die Frage: Inwiefern sind die Krebszellen des Primärtumors genetisch anders als jene in den Metastasen? Ist es sinnvoll, wenn ein Onkologe nur eine einzelne Gewebeprobe des Tumors nimmt, um über die Behandlungsmethode zu entscheiden, oder müsste man mehrere Proben nehmen – auch wenn das klinisch schwierig wäre?"

Reiter ist dieser Fragestellung zusammen mit renommierten Kollegen wie Bert Vogelstein (Johns Hopkins University) und dem ebenfalls aus Österreich stammenden Martin Nowak (Harvard University) nachgegangen. Die Ergebnisse wurden jüngst im Fachmagazin Science veröffentlicht. Und sie lassen aufatmen: Anstatt in Zukunft von einem Patienten diverse Proben von Tumoren und Metastasen nehmen zu müssen, scheint es, als würde die bisherige Methode ausreichen.

Unterschiedliche Mutationsmuster

Denn die Krebszellen innerhalb eines Betroffenen unterscheiden sich in den wichtigen Aspekten – sogenannten Treibergenen – offenbar nur wenig voneinander. "Mutationen in Treibergenen machen Krebszellen im Prinzip zu Krebszellen. Auch zielgerichtete Therapien attackieren Zellen, die hier mutiert sind", sagt Reiter.

In früheren Forschungsarbeiten entdeckte man in Tumoren und Metastasen unterschiedliche Mutationsmuster. Dies kann jedoch daran gelegen haben, dass die damals untersuchten Patienten sich teilweise schon einer Chemotherapie unterzogen hatten, die bekanntlich die Mutationsrate erhöhen kann. Darüber hinaus habe nicht jede Veränderung in einem Treibergen tatsächlich funktionale Konsequenzen, so Reiter. Dies lässt sich mitunter in Datenbanken von Krebspatienten abgleichen, noch sind aber nicht alle Genveränderungen eindeutig.

In ihrer aktuellen Studie entwickelten die Wissenschafter anhand der Daten der 20 Probanden mit acht verschiedenen Krebsarten einen Methodenansatz, um die Mutationen besser interpretieren zu können. Die mathematischen Modelle starten bei der ersten Krebszelle, die sich durch mehrere Schritte aus einer ursprünglich gesunden Zelle heraus entwickelt hat.

Diese Schritte sind in der Regel zwei bis acht krebsauslösende Genveränderungen, die auftreten müssen, bevor man von einer Krebszelle spricht. Und diese zeichnet sich durch verstärktes Wachstum aus: Man geht nicht mehr von einer 50:50-Chance aus, ob sich die Zelle teilt oder abstirbt, sondern von einer etwas erhöhten Wahrscheinlichkeit, sich zu teilen, etwa 50,2 Prozent. "Nur diese kleine Änderung kann dazu führen, dass diese spezielle Zelle zu einer Zellpopulation wird, die exponentiell wächst. Die meisten dieser vereinzelt auftauchenden Krebszellen sterben statistisch gesehen nach wenigen Teilungen wieder aus."

Von der Zelle zum Tumor

Die "erfolgreichen" Krebszellen wachsen zu einem Tumor heran, der Tausende bis Milliarden von Zellen umfasst. Das Forschungsmodell simuliert dieses Wachstum und auch, welche Genmutationen in den einzelnen Zellen entstehen. Für dieses Projekt waren die krebsauslösenden Veränderungen in Treibergenen relevant.

Der nächste Schritt wäre eine Erweiterung der Studie in ihrer Größenordnung, um mehr Krebsarten und Einzelfälle einbeziehen zu können. Schließlich will man anhand des bisherigen "Stammbaums" der Erkrankung eines Patienten und anhand der herausgefilterten Muster versuchen, bestimmte Therapieerfolge und die Lebenserwartung abzuschätzen. (Julia Sica, 2611.2018)