Das Relief "Hl. Gregor mit Schreibern" erinnert unseren Autor an seine Redaktionsstube. Gefunden hat er es im Kunsthistorischen Museum.

Foto: KHM-Museumsverband

Die Idee wurde in der Redaktionssitzung einstimmig abgenickt. Es ging darum, 1.000 Sekunden mit einem 1.000 Jahre alten Ding zu verbringen. Schließlich ist auf Seite zwölf über Autos mit 1.000 PS zu lesen. Eine andere Kollegin beschäftigt sich mit einer Mahlzeit, die es auf 1000 Kalorien bringt. Kalorien zählen, wie armselig! Ich finde, 1.000 Jahre machen da schon mehr her.

Kein Mensch wird 1.000 Jahre alt. Als älteste Österreicherin gilt derzeit Anna Wiesmayr aus Linz. Die bringt es gerade mal auf 110 Jahre. Dinge können sogar Millionen Jahre alt werden. Mir fallen die von Bernstein eingeschlossenen Mücken, Käfer und Fliegen ein. Wenn das Dinge sind.

Der Gedanke reifte und drehte sich in der Folge darum, im Kunsthistorischen Museum in Wien auf einem der samtenen preußischblauen Sofas Platz zu nehmen, vor einem Gemälde, auf dem so richtig die Post abgeht. À la Bruegel oder Hieronymus Bosch. Mit argen Fratzen darauf, die sich trenzend den Wanst vollstopfen, gegenseitig abkrageln oder auf Nimmerwiedersehen im Schlund wüster Fabelwesen verschwinden. In der Ecke des Museumssaals würde eine Aufseherin vor sich hingähnen, und der Parkettboden würde unter dem Tapsen japanischer Touristen knarzen.

Das Ganze hätte auch geklappt, würden wir nicht die 1.000., sondern die 500. Ausgabe feiern. Leider muss die Aufseherin ohne mich gähnen, denn vor 1.000 Jahren – so war vonseiten des Museums zu erfahren – hatte man es nicht so mit dem Malen. Obwohl unsere frühesten Ahnen schon vor zigtausenden Jahren die Wände von Höhlen mit Bisons, Pferden und gefiedertem Getier anpinselten.

Also kein Bild. Dafür das Relief Heiliger Gregor mit Schreibern aus einem Stück Elfenbein. Hauptsache, das Ding ist 1.000 Jahre alt. Ungefähr, denn ganz genau kann man es nicht sagen. Aber ziemlich.

Bronze-Popo

Unscheinbar liegt das Relief in der Restaurierwerkstatt des Kunsthistorischen Museums auf einem Tisch. Ein paar Meter weiter reinigt eine Mitarbeiterin das Hinterteil einer Bronzefigur mit einer Art Wattestäbchen und lauscht einem Hörbuch. Das Stück Elfenbein, kleiner als ein iPad, kommt gerade von einer Ausstellungsreise aus dem deutschen Merseburg heim.

Als eines der Motive ist der im Jahr 604 gestorbene Papst Gregor I., genannt "der Große", zu sehen. Unrasiert, mit geschnörkelter Tonsur sitzt er in wallendes Gewand gehüllt im päpstlichen Palast und schreibt. Die Taube auf seiner Schulter soll der Heilige Geist sein, der ihm zuflüstert. Vielleicht schnäbelt der Vogel lediglich an seinem Ohrläppchen herum. Auch Päpste sollen ihre Eigenheiten haben. Laut Fritz Fischer, Sammlungsdirektor der Kunst- und Schatzkammer im Museum – er stellt sich tatsächlich mit "Fischers Fritz" vor -, notiert Gregor die Messordnung, wie sie heute noch gültig sein soll.

Unter Gregor hocken leicht geduckt drei Burschen, die es dem Papst gleichtun. Fischers Fritz bezeichnet sie als "Fotokopierer". Jener ganz links hat die Beine überschlagen, wirkt verkrampft und dem Burnout nahe. Der Mittlere scheint ein Träumer zu sein und hält etwas in seiner Hand, das an eine Ketchup-Flasche denken lässt. Der unbekannte Bildhauer dachte wohl eher an ein Tintenfass. Der ganz rechts scheint bei näherer Betrachtung seinem Herrn zu lauschen. Was dieser ihm zuflüstert? Vielleicht, dass er sich sputen möge oder das Summen sein lassen solle. Wer weiß? Auf jeden Fall schaut es ein bisschen nach Anschiss aus.

Das Quartett lässt mich an unsere Redaktionsstube denken, in der ich mir eine Tischgruppe mit drei Kollegen teile. Bei uns fehlt das massenhafte Akanthuskraut, statt Buch und Federkiel gibt's Tastatur und Bildschirm, die Taube ist eine Computermaus. Ich überlege, wer von uns, welchen Schreiber auf dem Relief darstellen könnte. Ich glaube, ich nehm den Papst. Nicht aus religiösen Gründen. Angeblich unterhielt er regen Briefwechsel mit der Langobardenkönigin Theudelinde und machte ihr wertvolle Geschenke. Klingt unterhaltsam. Außerdem gilt er unter anderem als Patron der Musiker, Maurer und Knopfmacher. Der Erzengel Michael soll ihm auch erschienen sein. Den wollte ich immer schon mal abheben sehen.

500 Sekunden mit Gregor

Über vier Millionen Stück zählt die Sammlung des Museums. Ich hätte die 1000 Sekunden im Museum auch mit der Reichskrone verbringen können. Die bringt es zeitlich auch auf 1000 Jahre, mehr oder weniger. Namensmäßig macht die Krone natürlich mächtig was her. Nur optisch stinkt sie im Vergleich zum Relief ab. Auch wenn es respektlos und flapsig klingen mag: Mit ihren zuckerlfarbenen Edelsteinen und Perlen, die aus ihrem Gold hervorglotzen, erinnert sie an ein Requisit für einen Kindergeburtstag oder einen überkandidelten Brotkorb für den kaiserlichen Brunch.

Nach ungefähr 500 Sekunden mit Gregor und seinen Kollegen schweifen die Gedanken ins tiefe Mittelalter ab. So gut es halt geht. Auf Tahiti war es bestimmt damals schon paradiesisch. Vielleicht trug man bereits 1018 Blumenkränze um den braungebrannten Hals und fläzte am Strand, bevor man Fischlein am Spieß briet, Brotfrüchte schnabulierte und in den Sternenhimmel stierte.

In unseren Gefilden? Der Fantasieprojektor zeigt dunkle Täler, nasskalte Burgen, albtraumtaugliche Abteien wie aus Der Name der Rose, immerwährenden Nebel, Rabengekrächze, Wolfsgeheule, Matsch, wohin der Blick schweift, Tollwut, Krätze, Pest, Streckbänke, Eiserne Jungfrauen und einen Gestank, der einem die Tränen in die Augen treibt. Blutrünstiges Diebesgesindel lauert hinter jedem Baumstrunk, und ein ausgewachsener Katarrh oder Eiterzahn haben das Zeug dazu, einen in den Himmel oder die Hölle zu befördern. Heute gibt's Aspirin C und Zahnärzte für Angstpatienten.

Babenberger-Poppo

Dafür klingen wenigstens die Namen jener Zeit amüsant. Da wäre der Däne Sven Gabelbart, Sohn von Harald I. Blauzahn, nach dem die Funkmethode Bluetooth benannt ist. Weiter südlich amtiert ab 1016 der Erzbischof Poppo von Babenberg. Bei der Besichtigung einer Baustelle des Doms zu Trier fasst sein kahles Haupt angeblich einen heftigen Sonnenstich aus, der ihn in weiterer Folge das Zeitliche segnen lässt.

Auch von Kaiserin Kunigunde gibt es einiges zu berichten. Ihr Gemahl, Kaiser Heinrich II., soll ihr einen Seitensprung unterstellt haben. Zum Beweis ihrer Unschuld besteht die Frau auf einem Gottesurteil und schreitet barfuß über glühend heiße Pflugscharen "wie über kühlen Tau". Bischof Aldhun von Durham stirbt angeblich an gebrochenem Herzen, als er von der Niederlage der Northumbrier in der Schlacht bei Carham hörte, und auf der Iberischen Halbinsel wird der Kalif Ali ibn Hammud an-Nasir von Sklaven ermordet. Es heißt, dies geschah am 22. März des Jahres 1018. Das wäre ihm auf Tahiti vielleicht nicht passiert.

Ein Blick zurück in die päpstliche Schreibstube Gregors fällt beschaulicher aus. Es wird allerdings ein letzter aus so exklusiver Nähe sein. Während es nach den 1.000 Sekunden und ein paar Zerquetschten heißt, wieder zu den Kollegen in die Redaktion zurückzukehren, werden der Papst und seine Schreiber ihre Arbeit in einer Vitrine im Saal 37 der Kunstkammer fortsetzen.

Keine 50 Meter von dieser entfernt zeigt das Museum gerade die gehypte Ausstellung des Filmemachers Wes Anderson und seiner Partnerin Juman Malouf. Die beiden zeigen unter anderem den Sarg einer mumifizierten Spitzmaus aus dem 4. Jh. v. Chr. Dabei ist nicht mal eine Maus in der Kiste. Ich werde mir für ein RONDO-Jubiläum in weiter, weiter Ferne eine oberägyptische Schminkpalette in Form eines Nasen-Nilhechts schnappen. Oder doch die Aschenkiste des Gerillanus Marcellus ... Die RONDO-Geschichte wird's weisen. (Michael Hausenblas, RONDO, 5.12.2018)

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