Der Denker des Augenblicks steht unter Vertikalspannung, handelt aber im Wesentlichen vorurteilsfrei und spontan: ein US-Olympionike in Rio de Janeiro, 2016, schwerkraftaversiv.

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Gerade solche Denker, die ihr Wissen gewohnheitsmäßig mit einer Vielzahl von Lesern und Hörern teilen, halten nicht durchwegs das Niveau ihrer Höhenflüge. Diese Einsicht kann sogar erhabene Geister mit Lähmungserscheinungen plagen. Philosoph Peter Sloterdijk, bis 2017 an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe lehrend, bildet unter solchen potenziell depressiv Gestimmten keine Ausnahme. Im neuen Band von Sloterdijks gesammelten Tagebuchnotizen findet sich – mit Blick auf die eigenen Möglichkeiten – ein entsprechend skeptischer Eintrag. Sloterdijk pendelt 2011 intensiv zwischen Wien und Karlsruhe hin und her. Sich selbst porträtiert der Denker als einen, dessen restliche Lebenszeit mit wesentlichen Verzichtsleistungen einhergeht.

Er lebe "am Rand" seiner Bibliothek, notiert Sloterdijk unter "22. Mai". Er könne lediglich zusehen, "wie die Bestände wachsen". Das Urteil fällt der Nachfahre des Diogenes über sich gleich selbst: "Viel klüger wirst du nicht werden. Was bisher gesagt werden konnte, ist gesagt, zumeist von anderen."

So wenig Aufhebens zu machen von sich als denkerischer Generalkapazität, das mutet mit Blick auf den Verfasser alarmierend an. Sloterdijk vervollständigt seiner Kapitulationserklärung mit dem Hinweis, was bestenfalls noch zu erwarten steht: "Hast du ein wenig Glück, wird dich die Muse der Nuance noch hin und wieder küssen." Und die zahlreichen Buchtitel Sloterdijks seit dem Bekenntnisjahr 2011 strafen den Kleinmut Lügen. Gerade ein Denken in Nuancen scheint, der Tendenz nach, schwerlich abschließbar zu sein.

Womöglich aber bezeichnet Sloterdijks Eingeständnis ein tiefer sitzendes Dilemma. Es handelt sich um die Preisgabe des Anspruchs, unsere Welt, die sich unaufhörlich verändert, systematisch zu erfassen. Was nur noch fluktuiert, kaum gerinnt und in Wutpartikeln durch das World Wide Web treibt, widersetzt sich jeder Tendenz zur Gestaltwerdung. Sloterdijk rekapituliert, dass seine Raumerkundung der Sphären den "vielleicht letzten" Versuch dargestellt habe, das "absolute Buch zu liefern". Absolute Bücher sind ein relativer Reinfall geworden. Die Lage verlangt nicht mehr danach, in Kategorien der Absolutheit bedacht zu werden.

Akrobatik statt Systematik

An die Stelle der abgedankten Systematiker tritt der Akrobat. Sein Glück verdankt der Hypnotiseur der Zuversicht, auch ohne systematische Vorbereitung, gleichsam aus dem Nichts, Gedankenblitze zünden zu können, die das Leben der Zuhörer verändern.

Die Rede ist vom größten Stegreifdenker der heimischen Neuzeit, dem Feuilletonisten, Kaffeehauszyniker und Karl-Kraus-Gegner Anton Kuh (1890–1941). Der Lebensgeschichte dieses Moralisten der Eingebung hat Walter Schübler ein ungemein anregendes Buch gewidmet. Im Kleingedruckten des fünften Kapitels ("Der Sprechsteller") erhält man Nachhilfe in der Kunst, vor Publikum geistreich zu sein und dennoch unsystematisch zu bleiben.

In der Figur des reizbaren Kuh erwächst Sloterdijk gleichsam posthum ein grandioser Widersacher. Aus dem Abstand von 100 Jahren ist es der spontan Vortragende (aufgeregt gestikulierend, das Monokel im Auge), der jeden Anflug von Verzagtheit von der Bühne fegt. Kuh erfand den Typus des Vortragenden als Feuerkopf. Was dieser Athlet der Geisteskraft von sich gibt, fliegt ihm zu. Das Hundertste ist ihm wichtig, weil er nur von ihm zum Tausendsten gelangt.

Kuhs spontanes Schwadronieren ist in seiner Textgestalt kaum überliefert. Sein Urheber geißelte die Sexualmoral anno 1918. Er nahm die Deutschnationalen aufs Korn, und er plagte sich mit den geistigen Aspekten des Judentums in bedrohlicher Zeit.

Dieser Guerilla ließ kein gutes Haar an einer Republik, deren Wichtigtuer kaum den "Menschenauflauf" vom "Reisauflauf" zu unterscheiden wussten. Worauf dieser Kunstturner den allergrößten Wert legte: Überzeugungen klar zu vertreten, ohne systematisch zu werden. Kuh versetzte sich wie jeder Topathlet in Vertikalspannung, um in der Sekunde der Entscheidung bei sich zu sein. Sein Credo: "Ich kenne die Argumente meines Nachredners nicht, aber ich missbillige sie." (Ronald Pohl, 21.11.2018)