Srinagar – Vor zehn Jahren verschärften die Mumbai-Anschläge den schwelenden Konflikt zweier atomar bewaffneter Nachbarn. Nirgendwo spielt sich dieser so unmittelbar ab wie in Kaschmir. Die Gewalt dort hat inzwischen aber einen entschieden lokaleren Charakter angenommen.

Als Tauseef Sheikh zum letzten Mal seine Mutter anrief, hatten indische Sicherheitskräfte ihn in einem Haus im Kaschmir-Tal eingekesselt. "Bete, dass mein Martyrium angenommen wird. Wir sehen uns im Jenseits", sagte er ihr. "Bleibe entschlossen auf deinem Pfad. Ich bete für deinen Erfolg", habe sie erwidert, erinnert sich Naseema Bano, die Mutter des 23-Jährigen.

Der Tag, an dem vor zehn Jahren zehn Terroristen mit Schnellfeuerwaffen, Handgranaten und Sprengstoff in einem Boot nach Mumbai kamen, ist in Indien als 26/11 bekannt – der 26. November. Die pakistanischen Männer von der Terrorgruppe Laschkar-e-Taiba (LeT) brachten mehr als 160 Menschen um und besetzten bei mehrtägigen Geiselnahmen zwei Luxus-Hotels sowie eine jüdische Einrichtung.

Ende der Friedensgespräche

Die Anschläge bedeuteten das Ende der damals laufenden Friedensgespräche zwischen Indien und Pakistan und brachten erneut Kaschmir in den Fokus – das von beiden Erzfeinden beanspruchte Himalaya-Tal, um das die heutigen Atommächte schon im ersten Jahr ihrer Unabhängigkeit, 1947, den ersten von bisher drei Kriegen geführt hatten. Denn die LeT ist vor allem dort aktiv.

Bei einem nun 30 Jahre andauernden Kampf zwischen Separatisten und indischen Sicherheitskräften sind auf der von Indien kontrollierten Seite der sogenannten Kontrolllinie mehr als 40.000 Menschen ums Leben gekommen. Indien wirft Pakistan vor, Separatisten und Terroristen zu unterstützen, und in manchen Fällen gibt es dafür auch deutliche Indizien.

Der Konflikt hat sich in den vergangenen Jahren aber gewandelt. Viele der Kämpfer sind heute nicht mehr von einer Gruppe wie der LeT ausgebildet worden, sondern junge Einheimische wie Tauseef Sheikh, die die erdrückende indische Militärpräsenz in der überwiegend muslimischen Region nicht mehr dulden wollen.

Wütende Jugend

Kurz nach Sheikhs Telefonat mit seiner Mutter wurde seine von Kugeln durchsiebte Leiche geborgen. Er war das zwölfte Mitglied seiner Familie, das im Kampf gegen indische Sicherheitskräfte getötet wurde. "In diesem Krieg gibt es keine halben Sachen", sagt Bano, die Mutter, mit gequälter Stimme. "Die Leute werden sich weiter aufopfern, bis Kaschmir unabhängig wird."

Diese Einstellung ist in Kaschmir ähnlich allgegenwärtig wie Apfelbäume und schneebedeckte Berge – vor allem unter jungen Menschen. "Bei der heutigen Jugend gehen die Wut und der Sinn für Ungerechtigkeit noch tiefer als bei meiner Generation vor 20 Jahren", meint Yasin Malik, der Chef der Jammu Kashmir Liberation Front, die in den 1990er Jahren den bewaffneten Unabhängigkeitskampf im indischen Teil Kaschmirs mit anführte. Heute steht die Befreiungsfront für gewaltlosen Widerstand.

Jugendliche radikalisieren sich zusehends.
Foto: APA/AFP/TAUSEEF MUSTAFA

Malik gibt der indischen Regierung die Schuld an der Militanz der Jugend. "Was wird wohl passieren, wenn man politischen Dissens verbietet, einer Widerstandsbewegung keine Luft zum Atmen lässt und Jugendliche mit Schrotflinten blind macht", fragt er rhetorisch.

Uno-Kritik an faktischer Immunität

Vor wenigen Monaten prangerte das UN-Menschenrechtsbüro eine Situation chronischer Straflosigkeit in Kaschmir an. Indische Sicherheitskräfte hätten im beobachteten Zeitraum zwischen Juli 2016 und April 2018 übermäßige Gewalt angewendet und zahlreiche Zivilisten getötet und verletzt, hieß es. Gegen Demonstranten eingesetzte Schrotflinten hätten innerhalb von nur eineinhalb Jahren mindestens 17 Menschen getötet und mehr als 6.000 verletzt. Viele derjenigen, die von den metallischen Schrotkugeln getroffen wurden, erblindeten, wie auch Amnesty International schon berichtet hat.

Ein Gesetz von 1990, demzufolge Angehörige der Sicherheitskräfte in Kaschmir nur mit Erlaubnis der Regierung in Neu Delhi strafrechtlich belangt werden dürfen, verleihe diesen praktisch Immunität, hieß es vom UN-Menschenrechtsbüro. Nicht ein einziges Mal sei eine solche Erlaubnis erteilt worden. Das Verschwinden von Menschen sowie angebliche Massengräber würden nicht untersucht. Aber auch bewaffnete Gruppen hätten diverse Menschenrechtsverletzungen begangen.

Nach Ansicht des indischen Journalisten David Devadas gibt es eine Wechselwirkung zwischen den Exzessen der Sicherheitskräfte und der Radikalisierung der Kaschmiris. "Man könnte sagen, dass sie sich gegenseitig hochgeschaukelt haben", meint er.

Eskalation der Gewalt erwartet

Mit ihren Gewalttaten – gezielte Angriffe auf Soldaten, Polizisten oder Politiker – rennen die Kämpfer strategisch gesehen gegen Windmühlen an. Häufig verbringen sie, wie Tauseef Sheikh, ihre letzten Momente in Häusern verschanzt, von Soldaten umzingelt. Die indischen Sicherheitskräfte sind in Kaschmir so verhasst, dass Bewohner in solchen Situationen diese oft mit Steinen bewerfen, um den Aufständischen zu helfen. Die Kämpfer werden wie Helden gefeiert und ihre Beerdigungen bisweilen von Hunderten Menschen besucht. Ihre Tode inspirieren andere, den Kampf aufzunehmen.

Die derzeitige politische Lage bietet zusätzlichen Zündstoff. Die Regierung des Unionsstaates Jammu und Kaschmir brach im Juni zusammen, und erst am vergangenen Donnerstag wurde das Parlament aufgelöst, so das es im kommenden halben Jahr eine Neuwahl geben muss. Die Zentralregierung hat in der Zwischenzeit die Verwaltung übernommen. Seit 2014 die hindu-nationalistische Partei von Premierminister Narendra Modi in Neu Delhi an die Macht kam, sind im ganzen Land die Spannungen zwischen der hinduistischen Mehrheit und den Muslimen gestiegen.

Es werden in den nächsten Monaten größere militärische Einsätze gegen die Aufständischen in Kaschmir erwartet, auch damit die Regierung vor der im Mai nächsten Jahres erwarteten Nationalwahl Erfolge vorweisen kann. Dass der Konflikt militärisch beendet werden kann, ist allerdings fraglich. "Das ist eine Volksbewegung", erklärt Mian Abdul Qayoom, Chef der Anwaltskammer des Bundesstaates. "Sie können ja nicht einfach alle töten." (APA, 23.11.2018)