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"Der zweiseitige Hebel 'Utopie/Dystopie' ist nichts als ein Brecheisen, mit dem man die schönen Puzzlekästchen der spekulativen Fantastik nur kaputtmachen kann, deren wahre Herausforderung darin besteht, die kunstgerechte Art zu finden, um das Kästchen zu öffnen": Dietmar Dath.

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Dietmar Dath, geboren 1970 in Rheinfelden, ist Journalist, Übersetzer und Autor. Zuletzt erschienen "Schnitt durch die Sonne" (Roman) und Sachbücher über Superhelden und Karl Marx.

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Ich mag es nicht mehr lesen, ich will es nicht mehr sehen und ich kann es nicht mehr hören. Jedesmal, wenn eine bedeutende Person stirbt, die Geschichten über Eisplaneten, Zeitmaschinen, geklonte Bohnen, über intelligente Wesen mit sechs Geschlechtern oder über weinende Computer geschrieben hat, wird sie in jedem Käseblatt und im gesamten Internet rückwirkend dafür bewundert und gelobt, dass sie uns Utopien hinterlassen hat oder Dystopien, schlimmstenfalls beides.

Verfasserinnen oder Verfasser von spekulativer Phantastik, besonders aber von Science Fiction, sind anscheinend permanent damit befasst, vor dem zu warnen, was da kommen mag (dann aber nie so kommt, wie es bei ihnen steht), oder andererseits Hoffnung zu stiften.

Wüsste man nicht, ob ein Szenario in einem Text eines dieser Menschen eine Utopie oder eine Dystopie ist, so wäre dies offenbar schlimmer, als wenn man den Autoschlüssel verlöre oder die eigene Unterschrift nicht mehr hinbekäme.

Immer rein mit den Texten ins Einweckglas, Zettel draufgeklebt und fertig: Dieser Text hier, über den schrecklichen Ort, ist eine Dystopie, und der da, über einen schönen Ort, ist eine Utopie. Von den Dystopien, soviel weiß heute jedes blinde Huhn auf Twitter, gehen die Mahnungen und die Warnungen aus, und wenn es ganz besonders radikale Dystopien sind, stürzen sie uns in moralische Verzweiflung. Von den Utopien, gackert dasselbe Huhn, gehen Hoffnungen aus, und wenn es ganz besonders radikale Utopien sind, werden wir agitiert wie vom linken Flugblatt, als es das noch gab.

Die einzige Frage also, nicht zufällig eine nach dem Stoff oder dem Thema, nicht nach der Form, die sämtliches Geschreibsel und Gemeine und Gerede und Gedenke, in dem es

um jene reichen Literaturen geht, die nicht nicht mimetisch, nicht realistisch, nicht naturalistisch gedacht und gemacht sind, sondern spekulativ, durchweg regiert, ist die nach Utopie oder Dystopie; Hallo Lebenshilfe und Lehrstück, Gute Nacht Vorstellungsvermögen.

Als jemand, dessen Wachbewusstein, dessen Herz und Seele und ganzer Sinn zu mindestens achtzig Prozent seiner Lebens- und Arbeitszeit nichts anderes durchdenken, gestalten und erleben als phantastische, spekualtive Literatur, komme ich mir bei diesem schmutzigen Ritual zunehmend so vor, als verstünde ich immer besser, wie dem muslimischen Jungen aus der Türkei zumute gewesen sein muss, der in meiner südbadischen Kindheit von Lehrern, Damen auf dem städtischen Amt oder im Sportverein gefragt wurde, ob er eigentlich katholisch oder evangelisch sei. Der Unterton bei dieser Bekenntnisausforschung, die sich mein Mitschüler da so cirka 1977 gefallen lassen musste, war nicht zu überhören: Wer weder katholisch noch evangelisch ist, gehört dem Teufel.

Die Penetranz, mit der Science Fiction und Gattungsverwandtes auf Hinweise durchsucht wird, ob man beim Lesen hoffen oder Angst haben soll, macht sich in der feuilletonistischen oder universitären Auseinandersetzung mit Arbeiten aus dem Genre ebenso unangefochten geltend wie die Anwendung derselben groben Sortiertmethode auf eine inzwischen weit verbreitete gehobene Literaturhaus- und Literaturpreisliteratur, die sich ein oder zwei Requisiten oder Erzähltricks bei der Science Fiction leiht, um die sterbenslangweilige Selbsterfahrungs- und Bedenkenträgerprosa des mehr oder weniger gebildeten Kleinbürgererzählhandwerks der reichen Länder ein bisschen zu beleben, was nebst allerlei verstaubten Kniffen aus der Rumpelkammer der Avantgarden des zwanzigsten Jahrhunderts ungefähr so viel bringt wie die Hinzufügung von Rückspiegel, Antenne mit Fuchsschwanz und Computernavigationssystem bei einem morschen Holzwägelchen, damit‘s endlich ein Rennauto wird.

Vertretbarer Aberglaube

In christlichen Allegorien sucht man zum Glück noch nicht nach Handlungsanweisungen, wie man dem schrecklichen Ort entgeht und den schönen findet – niemand Vernünftiges sagt, Dantes Göttliche Komödie sei ein Text, bei dem es nur zu verstehen gelte, dass er von seinem Publikum wolle, dass es nicht die Ehe breche oder lüge, weil es sonst in der Hölle schmoren müsse, die Dante schildert – so wenig wie, um noch ein anderes Genre zu bemühen, jemand auf den Gedanken kommt, die Erzählung "Schatten über Innsmouth" von H.P. Lovecraft sei dazu da, Menschen auf die Gefahren der Rassenschande mit Fischgöttern hinzuweisen. (Ich benutze das Wort "Rassenschande" ganz bewusst, Meister Lovecraft war ein übler Rassist, das hat gewiss dazu beigetragen, dass wir als den wohl wichtigsten Dichter der kosmischen Horrorliteratur im zwanzigsten Jahrhundert anerkennen sollten). Zum Glück hört, sieht und liest man auch nichts davon, Kinder sollten aus "Unsere Kleine Farm" von Laura Ingalls Wilder vor allem lernen, dass man die Annehmlichkeiten von Zentralheizung, Elektrizität und sonstigem modernem Wohnkomfort meiden solle, damit das Leben idyllischer werde, oder sie sollten bei der Lektüre von L. Frank Baums "Zauberer von Oz" kapieren, dass man sich in Wirbelstürme werfen müsse, wenn man sprechenden Tieren und Vogelscheuchen begegnen will.

Der zweiseitige Hebel "Utopie-Dystopie" ist nichts als ein Brecheisen, mit dem man die schönen Puzzlekästchen der spekulativen Phantastik nur kaputtmachen kann, deren wahre Herausforderung an Verstand, Herz und Seele des Publikums doch gerade darin besteht, dass es die sachgemäße und kunstgerechte Art findet, das jeweilige Kästchen zu öffnen. Was jeweils drin ist, bedeutet gar nich so viel: Autorinnen und Autoren von spekulativer Phantastik tragen einfach desselbe Spektrum von mal wackeren, mal gemeinen, mal groben, mal durchdachten, mal begrüßenswerten und mal abscheulichen Gesinnungen, Absichten und Motiven mit sich herum wie alle anderen Angehörigen der Menschengattung; es sind halt Pazifisten dabei und Faschistinnen, Veganer und Christinnen, auch Feministen und Sadistinnen, darüber kann man reden, wenn man will, darum muß man auch manchmal kämpfen, wenn es politisch und sozial ernst wird, aber der Witz an Geschichten über Eisplaneten, Zeitmaschinen, geklonte Bohnen, intelligente Wesen mit sechs Geschlechtern oder weinende Computer ist ein anderer.

Woher kommt der Aberglaube an Dystopie und Utopie als Universalschlüssel für eine in Wirklichkeit ungeheuer vielseitige Kunst? Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler, Kulturwissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftler, die Bücher, Comics, Filme und anderes Zeug mögen, das der spekulativen Phantastik und insbesondere der Science Fiction zugerechnet werden kann, haben ihn erfunden. Ich kann mich in ihren Beweggrund dabei gut einfühlen: Sie wollten ihren Genuß rechtfertigen, weil das Rechtfertigen als Tätigkeitsmuster nun mal sehr tief in den Äußerungsgewohnheiten von Menschen sitzt, die ihre kuriosen Beschäftigungen ständig einer Gesellschaft plausibel machen müssen, die übers Profitstreben sowie den Kauf und Verkauf menschlicher Arbeitskraft sozialisiert ist. Was Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler, Kulturwissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftler treiben, ist ja nicht leicht als etwas zu erkennen, das irgendwem einen Profit bringt, und daher gilt‘s nur unter Vorbehalt als produktive Arbeit und gesellschaftlich nützlich. Philologie, Hermeneutik, literarische Analyse – wer sowas macht, will auch mal eine Tagung abhalten oder Drittmittel abstauben und dabei nicht immer von den Kolleginnen und Kollegen derjenigen Fakultären, bei denen Dank Mathematik und Informatik und Physik und Chemie und Biologie wenigstens ab und zu ein neues Waschmittel oder eine Waffe herauskommt, spöttisch angeguckt werden.

Opfer einer Zwecklüge

In dieser bemitleidenswerten Klemme sind die Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler, die Kulturwissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftler auf die Zwecklüge vom doppelten, teils utopischen, teils dystopischen Sinn der spekulativen Kunst verfallen, die sie, wo immer ich ihnen begegnen darf, mittlerweile offenbar mit dem Eifer des Opfer hartnäckiger und erfolgreicher Selbsthypnose auch tatsächlich glauben.

Während diese Zwecklüge vor allem das Verstehen von Science Fiction einengt und abwürgt, gibt es bei anderen phantastischen Genres von der High Fantasy und Sword and Sorcery über die Superhelden bis zum übernatürlichen Horror unerfreulicherweise viele ähnlich gewaltsame Fehlgriffe der professionellen Deutung und Vermittlung, nicht unbedingt auf

Orte der Handlung, sondern auf andere Figurationen – wenn überhaupt mal jemand in der Zeitung oder auf dem Lehrstuhl ein freundliches Wort über Fantasy verliert, dann unter Bezugnahme darauf, dass in einem einschlägigen Buch oder Film mal ein Mädchen und nicht immer nur ein Junge den Zauberstab oder das Lichtschwert schwingen darf, oder darauf, dass eine Urheberin oder ein Urheber eines Textes, in dem Geister und Prophezeiungen vorkommen, mal aus der Karibik stammt statt immer nur aus South Gloucestershire oder Garmisch. Mit dem phantastischen Horror steht es nicht besser: Dauernd erzählt man uns, Zombies seien eine Metapher für Konsumkranke, die im Wachkoma durch Kaufhäuser schlurfen, oder für Menschen, die ihr Smartphone gefangenhält, oder für Arbeitslose, die unter dem Regime des Kaufens und Verkaufens von Arbeitskraft und der Profitwirtschaft nicht mehr richtig ins Gemeinwesen passen, oder vielleicht auch für Leute, die der Sog und der Schub der Massenmigration rund um den Erdball zieht und drückt. Wer versucht, den eigenen Wonnegraus über Zombiegeschichten mit dergleichen Deuterei vom Eskapismusverdacht zu befreien, übersieht, dass eine Imago des Grauens wie der Zombie ganz schön robust, eindrucksvoll und vieldeutig sein muss, wenn man sie nach so vielen Seiten hin auslegen kann. Wer sich gar nicht erst fragt, was den Zombie eigentlich zum Zombie macht, sondern gleich munter drauflosdeutet, hat damit die notwendige Bedingung dafür, dass überhaupt gedeutet werden kann und muss, ignoriert. Es ist, als würde man eine Analyse des Geldes produzieren, die ausschließlich von den Sachen und Dienstleistungen handelte, die man mit Geld kaufen kann – nichts wäre damit erklärt, denn analytisch interessant ist doch, warum Geld überhaupt kann, was es kann.

Wenn die Kunstschaffenden im Zombie-Subgrenre wirklich nur über Konsumtrottel, Handyverstrahlte und Geflüchtete reden wollten, wieso tun sie das dann nicht einfach? Fürchten sich diese Horrorleute vor dem Risiko, das man in unseren derzeit gerade noch einigermaßen liberalen bürgerlichen Demokratien eingeht, wenn man etwas Kritisches, Betroffenees oder Warnendes über die Kaputten und Benachteiligten sagt? Klar, bei rechten Bekloppten eckt man an, wenn man darauf hinweist, dass die Lebensweise, die wir im Westen gewohnt sind, ihre Schattenseiten hat, aber welche Literatur und Kunst gefällt schon rechten Bekloppten?

Zombies sind nicht wirklich, anders als das Gesundheitssystem oder der Strassenverkehr. Gesellschaftliche Einrichtungen wie diese haben Vorteile, die mit spezifischen Nachteilen eng, ja meist unauflöslich verbunden sind, und umgekehrt, wie alles, was in Systemgestalt lebt. Viele Utopien und Dystopien, besonders die dummen, entstehen, indem jemand sich in einen Vorteil gesellschaftlichen Lebens verbeißt und ihn so zurichtet, dass der daran haftende Nachteil unsichtbar wird, oder umgekehrt. Als Streck- und Dehnübung für verkümmerte Phantasiemuskeln mag das angehen, aber es ist nicht nur ästhetisch schwach, sondern sogar politisch gefährlich. Wer die Suche nach sozialen Phänomenen und Einrichtungen beginnt, die Vorteile haben sollen, aber keine Nachteile, verspricht Unmögliches, und wer umgekehrt an den Nachteilen des sozial Vorhandenen nicht die Vorteile sieht, die sie zumindest mal gehabt haben müssen, weil sich sonst niemand drauf eingelassen hätte, kann das Nachteilige nicht mehr abschaffen, weil jede derartige Abschaffung einen zutreffenden, keinen phantastisch-gruseligen Begriff vom Übel haben muss, dass es abzuschaffen gilt, sonst misslingt jedes Besserungsbemühen schon im Ansatz.

Abstrakter Reichtum

Der entschiedene Gegner der Sklaverei Frederick Douglass sah, dass diese scheußliche Einrichtung ein Baugerüst für die Konstruktion moderner Staaten war, als sie entstand, aber auch, dass man ein Baugerüst loswerden kann und muss, wenn das Haus steht. Die entschiedene Feindin der Frauenunterdrückung Rosa Luxemburg sah, dass in primitiven Gesellschaften mit niedrigem Produktivkraftstand die Arbeitsteilung bei der Reproduktion der Gattung die gebärfähigen Wesen auf die schlechten Plätze verweist, aber eben deshalb sah sie auch, dass eine stark erweiterte Produktion und Reproduktion diese Verteilung erübrigt. Und Karl Marx, der den Kapitalismus nicht besonders geliebt hat, sah doch sehr genau, dass dieses Produktionsverhältnis den abstrakten Reichtum geschaffen hat, den eine Gesellschaft mit gleichen Chancen und individuellen Rechten braucht, und dass der Kapitalismus der historisch erste bekannte Fall einer sozusagen automatischen Erzeugung und Verteilung des Mehrprodukts darstellt, statt einer auf persönliche Herrschaft gegründeten – der Weg vom Sklavenhalten oder von der Grundherrschaft zum Sozialismus ist weiter als der vom Kapitalismus, das gehört zu den klaren Vorteilen des Letzteren.

Ich bestreite selbstverständlich nicht, dass man in vielen, wenn nicht den meisten Texten der spekulativen Phantastik schöne oder schlimme Orte findet. Ich bestreite aber, dass die Tatsache, dass diese Orte als schön oder schlimm imponieren, etwas anderes ist als ein Nebeneffekt sehr grundsätzlicher literarischer Eigenheiten der Texte, die immer dann vorkommen, wenn "Welten" als systemförmig ernstgenommen und künstlerisch durchgespielt werden. "Das Dystopische" und "das Utopische" sind Epiphänomene statt Hauptsachen, ganz wie die Erfindung der Teflonbeschichtung bei der Raumfahrt.

Die britische Science-Fiction-Autorin Gwyneth Jones hat 1987 in einem Aufsatz namens "Getting Rid of the Brand Names" an einen Wahlspruch des britischen Premierministers und Romanciers Benjamin Disraeli erinnert: "never complain, never explain" – beschwer dich nie, erklär dich nie. In der Science Fiction, so schreibt Jones ganz richtig, gelte das Gegenteil. Man mag sich dagegen sträuben und versuchen, die negativen, schädlichen Effekte von Beschwerde und Erklärung beherrschbar zu machen. Aber wer sich ins Binnengeflecht einer ausgedachten Welt begibt und die Verschränkung von Vor- und Nachteilen solch einer Welt für diejenigen, die darin leben, leiden und genießen, nicht vernachlässigen will, muss Zustände der betreffenden Welt erläutern (was immer auch ein bisschen heisst: loben, affirmieren) oder beklagen; tertium non datur.

Wie geht es in der Zukunft oder im Weltall oder in anderen Dimensionen zu?

Der reine Erklärmodus stößt selbst da, wo man das immer ein wenig Langweilige daran nötigenfalls in Kauf nimmt, an die Grenzen seiner Leistungsfähgkeit, sobald erklärt werden soll, was auch Ortsansässige oft nicht verstehen, sondern nur benutzen können, nämlich, so Jones, "everyday new technology or deeply embedded social ideology", also Alltagstechnik und tief ins soziale Unbewusste eingesenkte Ideologie.

Es gibt unter Menschen immer und überall Dinge, nach denen im Normalfall nicht gefragt wird, weil alle Bescheid wissen oder Bescheid zu wissen glauben, aber auf Nachfrage dann gar nicht sonderlich genau sagen können, was sie da wissen – in der Bundesrepublik Deutschland der Gegenwart, in der ich schreibe, wären das zum Beispiel ein "Handy" ("everyday new technology") oder ein "Verfassungsfeind" ("deeply embedded social ideology").

Verfassungsfeindschaften

Wo Erklärungen von Einheimischen nicht erwartet werden dürfen, kann man nur zum zweiten der von Disraeli untersagten Redemodi greifen, der Beschwerde: Dieses Handy ist kaputt, diese Frau ist zu Unrecht als Verfassungsfeindin in Verruf gebracht worden. Beschwert man sich, dann immer, weil es einen Grund gibt, sich über die Funktionsweise der betreffenden Technik oder die sozial sanktionierten Definitionen des betreffenden Status zu unterhalten. Diese Unterhaltung kann für spekulative Handys und Verfassungsfeindschaften, die den mitlesenden Dritten aus eigener Erfahrung unbekannt sind und sich auch nicht überprüfen lassen, die Funktion der Erleichterung willentlicher Aufhebung des Unglaubens übernehmen: Man zweifelt nicht mehr daran, ob es solche Handys oder Verfassungsfeindschaften überhaupt gibt, wenn sie demonstrierbar kaputt, also mindestens: vorhanden sind. Wo die beiden Erzähltechniken "erklären" und "sich beschweren" als weltanschaulich-stofflich-thematische Parameter missverstanden werden, lesen Leute Erklärendes und denken "Utopie", oder sie lesen Beschwerden und denken "Dystopie".

Beides gibt es natürlich – aber "rein" nur da, wo die Autorin oder der Autor aus irgendeinem Grund über die von Jones ganz richtig von der Grundfunktion der Plausibilisierung des Phantastischen abgeleiteten beiden Grobmodi nicht hinauswollen (in die interessanteren Widersprüche hinein, wo der Optimismus und der Pessimismus einander umschlingen und durchdringen) oder nicht hinauskönnen (in Texten zum Beispiel, die sich an ungeübte oder unreife Leserschaften richten und alles so einfach und grundsätzlich wie möglich halten müssen: Science Fiction für Kinder oder Jugendliche ist meist wirklich nur entweder utopisch oder dystopisch).

Schuld daran, dass die Utopie-Dystopie-Unterscheidung so gern als Literaturdeutungsmaßstab genommen wird, ist vor allem ein Mann namens George Orwell. Dieser britische Schriftsteller hat im spanischen Bürgerkrieg gegen die Faschisten gekämpft und dabei hässliche Erfahrungen mit dem organisierten, moskautreuen Kommunismus gemacht. Deshalb veröffentlichte er 1949 eine Satire namens "Nineteen-Eighty-Four" über ein zukünftiges England unter einem Regime, das die abstoßendsten Züge dessen, was Orwell mit vielen seiner Zeitgenossen "Stalinismus" nannte, auf sich vereinigte und überhaupt keine Vorteile hatte. Persönliche Rache am Schicksal hat einige sehr gute Texte hervorgebracht, aber "Ninenteen-Eighty-Four" gehört nicht dazu.

Das Buch krankt am belehrenden Naturell des Verfassers, der nicht nur Schwierigkeiten hatte, eine in sich stimmige üble Gesellschaft zu konstruieren, sondern auch nicht verstand, dass man Bücher über erfundene Gemeinwesen oder andere sozial belangvolle Erscheinungen nicht danach sortieren soll, ob sie entweder warnen oder andererseits hoffen – als er über einen der bedeutendsten neuzeitlichen Verfasser spekulativer Phantastik, H.G. Wells, infolge dieser Leseschwäche schrieb, man müsse dem Mann widersprechen, denn er sage, die Zukunft sei machbar und beherrschbar, war Wells schon zu müde von der vielen gelungenen, schönen und schweren Arbeit, als dass er anders als mit der knappstmöglichen Abfuhr hätte antworten können, per Post, an die Adresse des Entstellers: "I don’t say that at all. Read my early works, you shit."

Von der deftigen Wortwahl abgesehen ist daran vor allem interessant, dass Wells offensichtlich der Meinung war, seine frühen, finsteren Sachen durch die späteren, helleren Schöpfungen gerade nicht überschrieben oder erledigt zu haben, sondern darauf bestand, als jemand wahrgenommen zu werden, der alle Farben aller Blicke ins Mögliche bei der Hand hatte – im Frühwerk das Böse, im Spätwerk das Gute, nur zusammen ist es Wells, nur zusammen ist es spekulative Phantastil. Die Kluft, nein, mehr: Die Feindschaft, der Antagonismus zwischen den Leuten, die an der Entfaltung aller Möglichkeiten der spekulativen Phantastik wirken, auf der einen Seite, und Leuten wie Orwell auf der anderen, die diese Möglichkeiten in ihre stumpfen Ermunterungs-, Abschreckungs- und überhaupt Erziehungsschablonen pressen, ist seit Wells nicht kleiner geworden.

Einer der wichtigsten Wells-Schüler, Isaac Asimov, hat diese Feindschaft stellvertretend für alle auf beiden Seiten in einem Verriss von Orwells berühmtestem Buch ausführlich am Material begründet – die Gesellschaft, die der Engländer ausmalt, schreibt Asimov, wäre keine zehn Minuten lebensfähig, mindestens fünf Personen müssten jeweils eine sechste überwachen, nicht einmal für die Idee, das Verfahren zu automatisieren, egal, ob man das dann Computer nennt oder nicht, hat es bei Orwell gereicht. Das ist kein stofflich-thematischer Einspruch, es betrifft die künstlerische Verfahrensweise: Hätte Orwell sich der geistigen Disziplin unterworfen, die Asimov von ihm fordert, wäre ihm aufgefallen, dass die Gesellschaft, die er darstellen will, zumindest effizienter verwaltet sein muss als seine eigene, und damit wäre er dann aufs Computer- und Vernetzungsprinzip gestoßen, dessen Applikationen uns heute soviel Ärger machen. Mit der Offenheit, die entdeckt, dass Erklärungen in Beschwerden umschlagen können und umgekehrt, und dass ein Nachteil – die Überwachung – in derlei Szenarien immer an einem Vorteil – der Effizienz – hängt, denkt kunstgerechte spekulative Phantastik: Interessiert am Verhältnis der Variablen zu den Invarianten in den menschlichen Verhältnissen und daran, ob einiges, was man hier und heute für eine Invariante hält, nicht eine Variable ist, oder umgekehrt. Das ist eine Art, zu denken, die das Stoffliche und Thematische nicht voraussetzt wie beim Lehrgedicht, sondern erst erschließt und im Erschließen erschafft, genau wie bei der Entdeckung der nichteuklidischen Geometrie.

Rund zwei Jahrtausende lang hatte die Mathematik ja geglaubt, die Grundsätze der Geometrie, die der Grieche Euklid in seinen "Elementen" verwendet hatte, seien natürlich, richtig und wie man heute sagt: alternativlos. Einer dieser Grundsätze sagt, dass zu jeder Geraden durch jeden Punkt, der nicht auf ihr liegt, in der Ebene exakt eine einzige Parallele läuft, also eine weitere Gerade, mit der sich die erste niemals schneidet. Der Gedanke stammt aus dem dritten Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechung, und erst im neunzehnten Jahrhundert nach der Null in dieser Zeitzählweise zeigten der Russe Nikolai Iwanowitsch Lobatschewski, der Ungar János Bolyai und der Deutsche Carl Friedrich Gauss, dass das eben nicht so sein muss. Auf der Kugel zum Beispiel hat jede Gerade, die da ein Großkreis ist, überhaupt keine Parallele, und in der hyperbolischen Geometrie hat sie unendlich viele Parallelen. Gegen die neuen, nichteuklidischen Geometrien brachte man sofort die wütendste Polemik in Stellung, der alberne Eugen Dühring zum Beispiel, gegen den Friedrich Engels ein schönes Buch geschrieben hat, randalierte gegen ‚paranoia geometrica‘, und in Jena sprach Gottlob Frege, Logiker und bestimmt kein Dummkopf, von der "neuesten Krankheit" der Mathematiker, dem "morbus mathematicorum recens".

Selbst die übelste Schimpferei aber verstieg sich nicht dazu, von den Parallelen zu verlangen, sie sollen sich gefälligst im Land der Hoffnung, also der Utopie treffen, oder in dem der Angst, der Dystopie. Worum ich, um zum Schluss zu kommen, mit Nachdruck bitten möchte, ist mehr Respekt vor der Konstruktion, die sich mit den Variablen und den Invarianten des Gegebenen und des Vorstellbaren befasst und sich dabei möglichst weit von Vorgaben didaktischer, pädagogischer, agitatorischer oder sonstwie bevormundender Sorte emanzipiert. Es können ja trotzdem kommunistische oder feministische Bücher dabei herauskommen, das sind dann eben Kollateraleffekte, vielleicht sogar nützliche und erfreuliche. Nur: Das Herz der Sache ist etwas anderes, nicht das Verhältnis zur Realität, sondern die Vermenschlichung derselben durch ihre Gestaltung als Spiel mit Variablen und Invarianten, wie es von allen Wesen, die wir kennen, nur die Menschen spielen können. Das künstlerische Ideal ist nicht einfach identisch mit dem sozialen, also etwa der bestmöglichen Welt, sondern der größtmögliche Spielraum für dieses Spiel. Der Himmel der Kunst schließt ein, dass sie auch die Hölle gestalten darf, und alles, was zwischen der und dem sozialen Himmel liegt, oder ganz abseits der kürzesten Strecke, mit der man diese beiden verbinden könnte. Der Horizont der spekulativen Phantastik ist nicht der einer Sportveranstaltung, bei der diejenigen als erste ins Ziel gelangen, die irgendeine utopische oder dystopische Lektion gelernt haben. Er ist offen und soll es sein. (Dietmar Dath, 24.11.2018)